Soziopathischer Wahn ist ein Begriff aus der Arbeit von Adorno und Horkheimer, Lacan
Alte Krankheitsbegiffe sind immer gefährlich, auch in Gesellschaft und Politik, aber sie sind auch neu zu besetzen und zu überschreiben, wenn es Sinn macht:
Ich nehm den Grundgedanken Soziopathischer Wahn grad in meine wachsende Gruppe zu Mental Health auf, die mehrsprachig als Angel Angst die Wegweiser in der Angst nutzbar machen soll: Tabus sind auch Hinweis-Gebende
Der Wahn als Wirklichkeitsersatz ist eine psychische Funktion, der bisher in der Psychiatrie vor allem mit neuen Medikamenten begegnet wird: Manche Menschen kommen nach langjährigem Alkohol- oder intensivem Drogen-Genuß in Psychotische Krisen: Einhergehend mit einer Ich-Schwäche wächst die Angst in Vorstelllungen von Angriffen von Figuren, Dämonen und Monstern,
Auch in der Gesellschaft und Politik brauchen wir eine Mündigwerdung als Genese der autonomen Ich-Organisation: Gruppen- und Netzwerk-Zusammenarbeit wieder erlernen und sichern durch üben: Forumtheater
Wer in autoritären Situationen aufgewachsen ist, will die Verantwortung immer den anderen anlasten: Das Ich bleibt unschuldig, die Anderen sind schuld: Auch die Umstände, die Familie, Gesellschaft und die Religion können verantwortlich gemacht werden: Teile des Über-Ich …
Dialogische Überlegungen zum Wahnbegriff bei Horkheimer/Adorno und Lacan - Studien zur Materiellen Kultur - Oldenburg, 2022
1 * . Einleitung: Zur Metapsyc
1. Einleitung: Zur Metapsychologie der pathischen Projektion Es genügt, Freuds Text über den Präsidenten Schreber zu lesen, um zu bemerken, daß er […] alle Gefahren zeigt, die bestehen, wenn man betreffs der Paranoia in unvorsichtiger Weise die Projektion ins Spiel bringt, die Beziehung von Ich zu Ich, oder vom Ich zum anderen. Obwohl diese Warnung schwarz auf weiß geschrieben steht, bedient man sich munter drauflos des Ausdrucks Projektion, um die Wahnzustände und ihre Genese zu erklären.
– Jaques Lacan: Die Psychosen, Das Seminar III, S. 92. Mit dem Aufstieg der Neuen Rechten und der anhaltenden Autoritarisierungswelle, die die westlichen Gesellschaften seit Ende der 2000er Jahre erfasste, verbreitete sich nicht nur ein Interesse an der sozialtheoretischen Ausdeutung ihrer Entstehungsbedingungen, sondern auch eine entwaffnete Verblüffung angesichts ihrer wuchernden und sich immer weiter radikalisierenden Irrationalität.1
Dieses Erkenntnisinteresse an der spezifischen Form der Irrationalität eines Hegemonie anstrebenden Rechtsradikalismus führte auch in der wissenschaftlichen Debatte zu einem Erstarken sozialpsychologischer Erklärungsansätze gegenüber deskriptiv-klassifikatorisch verfahrenden, politikwissenschaftlichen Theoretisierungsbemühungen (vgl. Decker et al. 2016; Henkelmann et al. 2020b, S. 13f.)
1 Für eine Skizze dieser gesellschaftlichen Transition vgl. Strobl 2021, S. 11–37. Spezieller zur Genese der Neuen Rechten vgl. Weiß 2017.
Exemplarisch lässt sich diese Verblüffung an der öffentlichen Diskussion um die richtige Terminologie für das Verschwörungsdenken ablesen, die zu einer Vervielfachung der Terminologie geführt hat. Als Alternativen für den ehemals gängigen Begriff der „Verschwörungstheorie“ (Popper 1992, S. 119) wurden mitunter Folgende genutzt:
Aber auch die Diskussionen um den Populismusbegriff, die Wortprägung ‚fake news‘ oder sogenannte ‚alternative Fakten‘ verweisen allesamt auf den Versuch, die anhaltenden (Legitimations-)Krisen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu begreifen.
2 Im Rahmen dieses allgemeinen Trends kamen auch den Arbeiten aus dem Umfeld der Frankfurter Schule und insbesondere dem Begriff des autoritären Charakters neue Aufmerksamkeit zu, die 2019 mit der Herausgabe von Adornos Vortrag über Aspekte des neuen Rechtsradikalismus ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt erreichte.
3 Zur Erklärung der Form der Irrationalität der düsteren Melange aus „radikalisiertem Konservatismus“ (Strobl 2021), traditionellen Rechtsradikalen und ehemals demobilisierten, politisch Resignierten greift diese Theorietradition zentral auf die psychoanalytischen Begriffe der Projektion und der Rationalisierung zurück. Durch ihr Zusammenspiel erklärt sich das „Moment des Angedrehten, des sich selbst nicht ganz Glaubenden“ des Autoritarismus; das „Schwanken […] zwischen dem überdrehten Nationalismus und dem Zweifel daran, der dann wieder es notwendig macht, ihn zu überspielen, damit man ihn sich selbst und anderen gleichsam einredet“ (Adorno 2019, S. 14). Der Projektionsbegriff erlaubt es dabei einerseits, das Verharren von Subjekten in Herrschaftsbeziehungen zu erklären, die ihren eigenen Interessen zuwiderlaufen, da die Projektion eine sie stabilisierende Verschiebung interner Konfliktanlässe auf Ersatzobjekte bedeutet; andererseits erläutert der Einsatz der Projektion als Abwehrmechanismus der intrinsischen Krisen von Herrschaft im Subjekt, weshalb noch ihre dreistesten Lügen – wie die der 2 Die Verschränkung von öffentlichem und wissenschaftlichem sozialpsychologischem Interesse zeigt sich exemplarisch an der Popularität der Wissenschaftskommunikation von Pia Lamberty (vgl. Lamberty & Nocun 2020).
3 Diese Verzahnung von öffentlichem Interesse und wissenschaftlicher Relektüre zeigt sich kaum besser als an dessen außerordentlicher Popularität: Nicht nur schaffte er es auf Platz zwei der Spiegel-Bestseller-Liste, er befindet sich mittlerweile auch in der 6. Auflage.
Aber auch abseits davon finden sich vermehrt Versuche, diese Traditionslinie zu aktualisieren (vgl. Henkelmann et al. 2020a; Kirchhoff 2018, S. 85–90; Kracher 2020, S. 164–201; von Redecker 2020, S. 33–67; Salzborn 2019, S. 189–211; darüber hinaus ist ein Aufsatz von Eva von Redecker über die Psychoanalyse des autoritären Charakters mit dem Titel Ideologies of Desire. A Possible Typology of Authoritarian Characters in Arbeit). 7 ‚gestohlenen‘ US-Präsidentschaftswahlen 2020 – nicht nur als offensichtliche Wahrheiten erscheinen können, sondern unter bestimmten Bedingungen sogar als solche erscheinen müssen: Verschwörungsmythen als die radikalste Form projektiv-paranoider, rechtsradikaler Wirklichkeitsverzerrung werden, so Samuel Salzborn, „geglaubt, nicht obwohl, sondern weil sie erfunden sind“ (Salzborn 2019, S. 201).
Indem zwischen institutionalisierten Herrschaftspraktiken und den durch Projektion geformten, diskursiv bestimmten Ersatzobjekten eine theoretische Beziehung von ursächlicher Pathologie und erscheinender Symptomatik hergestellt wird, lässt sich die vermeintliche Irrationalität neurechter Bewegungen als sozial geformte Trieb- und Affektlogik entziffern.
Die psychoanalytisch orientierte Sozialtheorie drängt sich so fast wie von selbst als Übersetzungsregister der Rationalität des gesellschaftlich Irrationalen auf und erklärt zugleich dessen erstaunliche Persistenz gegen bloß aufklärerische Korrekturbemühungen (vgl. Adorno 2003c, S. 136).4
Der unbewusste und affektgetriebene Charakter insbesondere der antisemitischen Projektion veranlasste Horkheimer & Adorno dazu, sie in der Dialektik der Aufklärung als „pathische Projektion“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 215) zu bezeichnen und ihre Logik aus der psychoanalytischen Theorie der Paranoia, d. h. des Wahns im Allgemeinen, dabei aber vor allem des Verfolgungswahns im Speziellen zu entwickeln (vgl. ebd., S. 209–223).
Diese Traditionslinie, die Affektlogik des politischen Autoritarismus zu denken, produzierte in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe an Analysen der diskursiven, psychosozial bedingten Logik rechtsradikaler und autoritärer Ideologie und ihrer Verknüpfung mit den Entwicklungen in der Sozialstruktur – insbesondere hinsichtlich der Erklärung der psychologischen Funktion von Antisemitismus und männlicher Gewalt (vgl. Kirchhoff 2018, S. 85–90; Kirchhoff 2020, S. 213–230; Kracher 2020, S. 154–163; Pohl 2006, 4 Zur psychoanalytischen Arbeit als Übersetzung oder Entzifferung vgl. Lacan 2016d, S. 17–19. S. 27–73; Salzborn 2019, S. 198–211; Salzborn 2020, S. 107–125; Stögner 2018, S. 265–280; Winter 2020, S. 159–176).
Darin bleiben jedoch manche, insbesondere der neueren Analysen bei oberflächlichen Begriffen von Projektion und Wahn stehen, die dort beide die diffuse Verlagerung eines psychologischen Innen in ein reales Außen zu Abwehrzwecken meinen.
Der Wahn und das Wahnhafte fallen dann allerdings mit der Projektion und dem Projektiven schlechthin zusammen, sofern sie nicht nur eine besonders drastisch ausgeprägte und umfassende Form des projektiven Verhältnisses des Subjekts zur Außenwelt meinen (vgl. Kirchhoff 2018, S. 85–90).5
Die Unschärfe des gebrauchten Paranoia-Begriffs und insbesondere die mangelnde Explikation seines Zusammenhangs zum Narzissmus und zur Projektion erleichtern es, jedwede unliebsame soziale Phänomene als wahnhaft zu bezeichnen, die gar nicht sinnvoll als solche ausgewiesen werden (können).
Dadurch aber erhält der Wahnbegriff eine bloß polemisierende und pathologisierende rhetorische Funktion, die eine immanente Kritik ersetzt. Die psychoanalytische Sozialkritik steht beim Rückgriff auf die Begriffstrias aus Wahn, Projektion und Narzissmus stets in der Gefahr, diese dazu einzusetzen, dem Gegenstand der Kritik ein Rationalitätsdefizit vorzuwerfen, das sowohl seiner Form nach als auch als materialfalsch erst an ihm selbst zu erläutern und vor allem nachzuweisen wäre. 6
Nicht nur sprach in diesem allgemeineren Zusammenhang Robert Pfaller – unter Bezugnahme auf die Lacanianische Traditionslinie und den Begriff des Narzissmus – von „einer neoliberalen Gesellschaft, in der alles, wofür es sich zu leben lohnt, zum Objekt aggressiver Aneignungsversuche durch exklusive Minderheiten wird“
5 Doch schon bei Adorno selbst finden sich Passagen, die sich derart lesen (vgl. Adorno 2003g, S. 578f.; Adorno 2003c, S. 232f.).
6 Materialfalsche Urteile können zwar formal richtig gefolgert worden, aber dennoch aufgrund sachlich unzutreffender Prämissen falsch sein. Meint die Form des Urteils das vom je konkreten Gegenstand des Urteils abgelöste Schlussverfahren, so ist die Materie des Urteils dasjenige, woran es vollzogen wird.
Horkheimer & Adorno nutzen 8 (Pfaller 2010, S. 198). Deren Politik agiere „wie in paranoischem Wahn […] in Form hastiger, unüberlegter Säuberungs- und Sofortmaßnahmen“ (ebd., S. 205). Derart schrieb auch Christoph Türcke in Bezug auf den Genderbegriff von einem Machbarkeitswahn“ (Türcke 2021).
Dezidiert aus der adornitischen Traditionslinie heraus diagnostizierten Thomas Maul und David Schneider der #MeToo-Bewegung „Kontrollwahn“ und „Sittlichkeitswahn“, die sie zum „#Me-Too-Wahn“ (Schneider & Maul 2018) zusammenfassten; erkannte man bei Fridays for Future einen „kaum verkennbaren Jugendwahn“ (En arrêt! Berlin 2020, S. 317) oder attestierte Magnus Klaue „der linken Sprachpolitik Paranoia und Willkür“ und einen „Reglungswahn, der noch vor 50 Jahren das Privileg deutschnationaler Sprachreiniger gewesen ist“ (Klaue 2014).
Ebenso meinte Karin Stögner, sogenannte linke Identitätspolitik als „autoritär“ (Stögner 2018, S.275) in die Nähe von paranoid strukturierten „Verschwörungstheorien“ und „zutiefst funktionalistischen Weltbildern“ (ebd., S. 276) rücken und mit einem modifizierten Begriff von Adornos autoritärem Charakter analysieren zu können.
Diese Weise, den Begriff des autoritären Charakters, insbesondere aber den Begriff des Wahns zu gebrauchen, wäre alleinstehend kein Grund für eine tiefere theoretische Auseinandersetzung – schließlich stehen dem Arbeiten gegenüber, die eine psychoanalytische Aktualisierung und sozialwis
diesen Begriff in der Dialektik der Aufklärung und beziehen sich damit wahrscheinlich implizit auf Kants Unterscheidung von materialer und formaler Wahrheit (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 216; Kant 1800, Kap. VII. B). Dafür spricht neben der Ähnlichkeit der Benennung, dass sie im Zusammenhang mit ihrem Begriff des materialfalschen Urteils Kants Charakterisierung der materialen Wahrheit aufgreifen, dass es für diese kein absolut zwingendes Argument geben könne.
Denn ein solcher Zwang setzte voraus, dass sich ein allgemeines Kriterium materialer Wahrheit bilden ließe, das als notwendig einzusehen wäre. Weil aber die Allgemeinheit eines solchen Kriteriums nur durch die Abstraktion vom Inhalt gebildet werden könnte, wäre dieses Kriterium gar nicht mehr materiell, sondern bloß formal – eben unter Absehung von genau dem bestimmten Inhalt gebildet, den es doch gerade als bestimmten und nicht bloß unbestimmt als Inhalt überhaupt garantieren sollte.
senschaftliche Fruchtbarmachung der Theorie der pathischen Projektion und der sozialpathologischen Paranoia produktiv vorantreiben (vgl. Kracher 2020, S. 154–201; Pohl 2006, S. 27–73; Salzborn 2019, S. 198–211). Allerdings kommt diesen Missbräuchen eine gewisse begriffliche Opakheit in der The- orie der pathischen Projektion selbst entgegen, auf die auch ihr wichtigster zeitgenössischer Interpret, Rolf Pohl, hinweist: „Adorno verwendet einen sehr allgemein gehaltenen und unscharfen Paranoia-Begriff“ (Pohl 2006, S. 66). In seinem maßgeblichen Essay zur Sozialpsychologie der wahnhaft an- tisemitischen Projektion merkt er darüber hinaus an, dass der Projektions- begriff hinsichtlich des Antisemitismus „noch unscharf und uneinheitlich“ (ebd., S. 47 Anm. 39) gebraucht werde: „So macht es einen Unterschied, ob von der Projektion eigener ‚Selbstan- teile‘ (Klein/Bohleber) oder der Anteile von ‚Selbst- und Objektreprä- sentanzen‘ (Mentzos), ob von der Projektion aggressiver Triebregun- gen (Adorno/Simmel) bis hin zur ‚Begierde zum Töten‘ (Fenichel) oder von der Projektion von Verdrängtem die Rede ist. An manchen Stellen spricht Adorno sogar von der Projektion eigener Schuldgefühle als dem Ausgangspunkt der eingangs besprochenen Täter-Opfer-Inversion. […] Hier besteht mit Sicherheit noch weiterer Klärungsbedarf.“ (ebd.) Diese begriffliche Unschärfe ist bereits in Freuds maßgeblicher Theoretisie- rung der Verknüpfung von Wahn und Projektion angelegt: der Analyse des Falles Schreber. Die anfangs zitierte Bemerkung Lacans über Freuds Vorsicht im Gebrauch des Projektionsbegriffs bei der Analyse des Wahns bringt Freud sogar zu einer Revision seines Urteils über die Rolle der Projektion gegen Ende des Textes: „Es war nicht richtig zu sagen, die innerlich unterdrückte Empfindung werde projiziert, wir sehen vielmehr ein, daß das innerlich Auf- gehobene von außen wiederkehrt“ (Freud 1952d, S. 308). Freud greift den 9 Titel der Projektion als einen vorläufigen auf und verschiebt ihre ausführli- che Behandlung im Rahmen einer umfassenderen Metapsychologie der Pro- jektion auf einen späteren Zeitpunkt seiner Arbeit, der jedoch niemals kam (vgl. ebd., S. 303, 308). Es ist eben dieser Punkt, an dem Lacan mit seiner frühen Arbeit zu den Psychosen einsetzt und von dem aus er die zeitgenössischen Psychose-Be- griffe kritisiert. Es darf also Anlass zur Verwunderung geben, wenn Lacans Position innerhalb der Diskussion um die Schärfung des Begriffs der pathi- schen Projektion und den Begriff des (sozialpathologischen) Wahns bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist – dies auch deshalb, weil Lacan seine Positionierung im psychoanalytischen Feld insbesondere aus seiner aus- führlichen Beschäftigung mit dem Feld der Psychosen schöpft und als wich- tiger Bezugsautor der zeitgenössischen, kritischen Geistes- und Sozialwis- senschaften gelten darf (vgl. Lacan 2016a, S. 450–471; Lacan 2016d; Lacan 2002). Zwar gab es auch von Lacanianischen Autoren Versuche, Phänomene wie den Nationalismus oder die Neue Rechte interpretativ zu fassen, die dem psychoanalytischen Gehalt der Paranoia-Theorie Horkheimer & Adornos so- gar sehr nahekommen, doch blieb hier ebenfalls der eigentlich naheliegende Brückenschlag aus (vgl. Stefanović 2018, S. 159–192; Žižek 1994, S. 133–164). Aber nicht nur wegen möglicher Gemeinsamkeiten ist das Ausbleiben eines Gesprächs der beiden psychoanalytischen Theorietraditionen mitein- ander erstaunlich, sondern umso mehr aufgrund ihrer auf den ersten Blick grundsätzlichen Differenzen hinsichtlich des Zusammenhangs von Projek- tion und Wahn. Lacans frühe Arbeit an der „Frage der Psychosen“ (Lacan 2016d, S. 9), die immer wieder auf deren Abgrenzung von organischen, psy- chogenetischen Psychose-Auffassungen einerseits und von den Neurosen andererseits besteht, geht mit einer grundsätzlichen Kritik am Projektions- begriff als dem Konstitutionsmechanismus des Wahns einher. Sie nimmt je- doch nicht, wie Pohl es tut, die Unbestimmtheit des Inhalts der Projektion zum Ausgangspunkt, sondern die Unangemessenheit ihres Anlasses und ihrer Form als neurotischer Abwehrmechanismus für die Bestimmung des Wahns als einer Psychose: 7 „Diesen Ausdruck Projektion sollte man besser aufgeben. Worum es sich hier handelt, hat nichts zu tun mit jener psychologischen Projektion, die zum Beispiel bewirkt, daß wir von Leuten, denen wir nur sehr gemischte Gefühle entgegenbringen, alles, was sie tun, zumindest mit einer gewis- sen Perplexität hinsichtlich ihrer Absichten aufnehmen. Die Projektion in der Psychose ist überhaupt nicht das, sondern der Mechanismus, der von außen wiederkehren läßt, was von der Verwerfung* erfaßt wird, das heißt, was aus der allgemeinen Symbolisierung, die das Subjekt struktu- riert, herausgeworfen worden ist.“ (ebd., S. 58, Hervorhebung im Original) Wie aber ist diese zunächst bloß thesenhafte Kritik Lacans am Projektions- begriff zu verstehen und welche Konsequenzen sind aus ihr für Horkheimer & Adornos Begriff der pathischen Projektion und des Wahns zu ziehen? Die Ausgangsintuition dieser Arbeit ist es, dass Lacans Problematisierung zeitgenössischer Psychose-Begriffe aus dem Seminar III, Die Psychosen es erlaubt, Horkheimer & Adornos in der Dialektik der Aufklärung entwickel- te Paranoia-Theorie begrifflich schärfer zu stellen. Zu diesem Zweck wer- den zunächst Freuds metapsychologische Schriften zur Differenz zwischen den Neurosen und den Psychosen konsultiert, um den psychoanalytischen Hintergrund von Horkheimer & Adornos Paranoia-Theorie zu explizieren 7 Die Abgrenzung zu den organischen und psychogenetischen Psychose-Begriffen nimmt Lacan insbesondere in seiner Dissertationsschrift vor, während im Psychosen-Seminar die Abgrenzung zu den Neurosen im Vordergrund steht (vgl. Lacan 2016d, S. 18–21, 44–46; Lacan 2002, S. 37–59). Dabei präzisiert Lacan zu Beginn des Psychosen-Seminars, dass er die organische, somatogenetische Auffassung der Psychosen explizit als bloße Variante der psychogenetischen versteht (vgl. Lacan 2016d, S. 11). 10 und eine erste näherungsweise Bestimmung des Wahnbegriffs zu geben. Diese wird in der Folge weiter ausgearbeitet, indem diejenigen drei Momen- te konkretisiert und bestimmt werden, die jede psychoanalytische Theorie des Wahns erklären können muss, um hinreichend zu sein: die psychotische Krise, die Wahnkonstitution und die Wahnkonstruktion. In der Erläuterung der psychotischen Krise wird sich diese Arbeit insbeson- dere Adornos charakteranalytischen Schriften zuwenden, um anhand seines Begriffs der Ich-Schwäche aufzuzeigen, wie das spezifische Kräfteverhältnis der psychischen Instanzen zueinander und zur Außenwelt zu verstehen ist, aus dem die Psychosen als intrapsychischer Konfliktlösungsversuch folgen. Anschließend wird die pathische Projektion als Mechanismus der Wahnkon- stitution in den Fokus gerückt, die insbesondere entlang von Freuds Analyse des Falles Schreber und Lacans Überlegungen aus dem Psychosen-Seminar ausgelegt wird. Die Verschiedenheit von Horkheimer & Adorno und Lacan wird dabei insbesondere in ihrer verschiedenen Beurteilung der Stellung der wahnhaften Gewissheit herausgearbeitet. Zuletzt wird eine Lacanianische Perspektive auf Horkheimer & Adorno in der Rekonstruktion der Wahnkons- truktion fruchtbar gemacht, um jene Dialektik des wahnhaften Symbols ver- ständlich zu machen, die das eigentümlich bipolare Oszillieren bestimmt, das für den begrifflichen Rhythmus der Entwicklung der Paranoia-Theorie der Di- alektik der Aufklärung maßgeblich ist. Horkheimer & Adornos und Lacans Überlegungen zum Wahn werden dabei ab Kapitel 4 und 5 auf eine Weise ineinandergeschoben, in der sie ge- legentlich voneinander ununterscheidbar werden. Diese probeweise, struk- turalistische Lesart Horkheimer & Adornos wird jedoch, so die methodische Überlegung, durch den umfangreichen Einbezug der Freud’schen Arbeiten zu den Psychosen als einem gemeinsamen Dritten vermittelt, das den Be- zugspunkt eines geteilten Diskurses zu bilden vermag. Mehr als den Anfangs- punkt eines solchen Gespräches wird diese Arbeit nicht setzen können: Sie wird jedoch ihren Zweck bereits erreicht haben, wenn sie zeigen kann, dass es sich zu führen lohnt, weil es in Richtung des Horizonts einer Metapsycho- logie der pathischen Projektion weist. α. Präludium: Sozialpathologischer Wahn – Metapher oder Begriff? Einem grundsätzlichen Einwand gegen das Anliegen dieser Arbeit ist zu- nächst von vornherein zu begegnen: Ihr Fokus kann nicht sein, auf diejenigen Bedingungen einzugehen, unter denen sich überhaupt sinnvoll von sozia- len Pathologien sprechen lässt.8 Vielmehr zielt sie darauf, die allgemeinsten Strukturmomente des Psychotischen, aber vor allem des Wahns in der kri- tischen Sozialtheorie Horkheimer & Adornos zu beleuchten und sie unter Rückgriff auf Lacans Kritik zu problematisieren und zu präzisieren. Dafür ist es zunächst gleichgültig, nach den Unterschieden des individuellen Wahns vom gesellschaftlichen zu fragen, da beide – so es sich auch beim sozialpa- thologischen Wahn tatsächlich um Wahn handelt – als konkretere Formen desselben allgemeinen Begriffs von Wahn verstanden werden müssen, den zu rekonstruieren das Vorhaben dieser Arbeit ist. Tatsächlich gibt es für Horkheimer & Adorno keinen kategorialen Unter- schied zwischen individuellem und gesellschaftlichem Wahn, der so grund- legend wäre, dass der sozialpathologische nicht immer noch als ein Wahn begriffen werden müsste. Die Alternative wäre schwer denkbar: Es erscheint wenig plausibel, dass ein für die Dialektik der Aufklärung so bedeutsamer und unter Rückgriff auf Freuds Paranoia-Analysen so behutsam entwickelter Be- griff von sozialpathologischem Wahn von zwei derart mit der Psychoanalyse vertrauten Sozialforschern als bloße, dem individuellen Wahn entlehnte Me- tapher funktionierte (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 209–231). Es ließe sich dann schlichtweg nicht begreiflich machen, warum sie auf der Basis ihrer 8 Zum Begriff der sozialen Pathologie vgl. Honneth 1994, S. 9–70. 11 sozialpsychologischen Studien über das Vorurteil als Gegenmaßnahme ge- gen die faschistische Propaganda für die gesellschaftliche Aufklärung über die in ihr ausgebeuteten psychologischen Mechanismen werben, mit der sie explizit das Ziel verfolgen, „der Gefahr des völkischen Massenwahns für die Zukunft energisch vorzubeugen“ (Horkheimer & Adorno 2003, S. 364). Ihre Analyse der paranoiden Form des Antisemitismus im sechsten und sieb- ten Abschnitt der Elemente des Antisemitismus beginnt dementsprechend im sechsten Abschnitt mit der Entfaltung der konkreten Logik und Funktion des paranoiden Verdrängungsvorgangs im generisch antisemitischen Individuum (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 209–223). Im siebten Abschnitt entwi- ckeln Horkheimer & Adorno dagegen, wie die gesellschaftliche Organisation in der Form von Tickets einerseits den individuellen antisemitischen Wahn für die gesellschaftliche Rolle des Antisemitismus zunehmend überflüssig macht, diese Organisationsweise aber andererseits durch die von ihr produzierte Schematisierung und Stereotypisierung des Wahrnehmens und Urteilens im Subjekt eine Unfähigkeit zur Differenz erzeugt, die sich formal nicht von der antisemitischen Paranoia unterscheidet (vgl. ebd., S. 223–231). Der Begriff der Paranoia, wie er seiner Form nach am Subjekt entwickelt wurde, bleibt also auch hier für das Verständnis der psychologischen Seite des Antisemitismus unerlässlich (vgl. ebd., S. 229f.).9 Dass Wahn und Paranoia allerdings nicht nur eine gesellschaftlich produzierte und geforderte Form subjektiven Irrationa- lismus bezeichnen, sondern auch die Logik sozialer Formen als solcher be- stimmen können, deutet sich in jener apodiktischen Schlussfolgerung an, die dem allerletzten Absatz der Dialektik der Aufklärung vorangeht, ihn einleitet und den Höhepunkt der kritischen Analyse des gesamten Buches bildet: „Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in den Wahnsinn um“ (ebd., 228). 9 Nur aufgrund der allgemein paranoiden Form dessen, was Horkheimer & Adorno Ticket- denken nennen, das dem Inhalt nach frei von Antisemitismus sein kann, können sie zu folgendem dialektischen Schluss kommen: „Nicht erst das antisemitische Ticket ist antise- mitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 231). Auch wenn zu diesem Zeitpunkt zunächst fraglich bleiben muss, ob Hork- heimer & Adorno unter Wahnsinn dasselbe verstehen wie unter Wahn, da die an dieser Stelle anschließend von ihnen genannten, dem objektiven Wahn- sinn inbegriffenen Formen von Irrationalität keineswegs bloß wahnhafte sind, so wird doch die Möglichkeit, ja sogar die theoretische Notwendigkeit der Beschreibung bestimmter sozialer Strukturen mithilfe des Wahnbegriffs an anderer Stelle von Adorno unmissverständlich klar formuliert: „[E]s kann ja wohl gar kein Zweifel mehr sein, daß also sogenannte Massenbewegungen faschistischen Stils mit Wahnsystemen eine sehr tiefe strukturelle Beziehung haben“ (Adorno 2019, S. 26).10 In einer Rezension ihrer Studien über das Vorur- teil charakterisieren Horkheimer & Adorno diese Beziehung folgendermaßen: „Es handelt sich hier um Befunde, die – wie sich aus den Untersuchungen selbst ergeben hat – von besonderen wirtschaftlichen, politischen und vermutlich auch geographischen Bedingungen bis zu einem gewissen Grad unabhängig sind, nämlich die sozialpsychologischen Voraussetzun- gen des modernen totalitären Wahns und darüber hinaus des ethnischen und nationalistischen Vorurteils überhaupt. […] Wohlverstanden: es geht nicht etwa darum, das Auftreten totalitärer Systeme einfach psycholo- gisch zu erklären. […] Die Studien zeigen die unbewußten seelischen Be- dingungen auf, unter denen Massen für eine Politik gewonnen werden können, die ihren eigenen vernünftigen Interessen entgegengesetzt ist.“ (Horkheimer & Adorno 2003, S. 361, Hervorhebung d. A.) Noch deutlicher wird Adorno in den Minima Moralia, wo er den „Faschismus als Diktatur Verfolgungswahnsinniger“ bezeichnet, die „alle Verfolgungs- ängste der Opfer verwirklicht“ (Adorno 2003f, Aph. 103). 10 Zur soziologischen Ausführung dieser These vgl. Adorno 2003c, S. 136, 163f., 218, 228f., 231–233, 241, 247f., 251, 256, 281; Adorno 1995, S. 143, 331–334. 12 Auch wenn diese Arbeit den Wahn deshalb in den Blick nimmt, weil sie sich letztlich für die richtige Bestimmung seiner sozialpathologischen, mas- senpsychologischen Form interessiert, so ist die Bestimmung der Rolle des Wahns im Allgemeinen bei Horkheimer & Adorno dennoch prinzipiell durch eine Rückbesinnung auf seine begrifflichen Ursprünge im individualpsycho- logischen Wahn in den Elementen des Antisemitismus möglich und sogar angezeigt.11 Denn – und diese These ist erst nach der Durchführung der ge- samten Arbeit überzeugend eingelöst – der Begriff des Wahns zeigt im Werk Horkheimer & Adornos nicht einfach metaphorisch eine Irrationalität im Sin- ne eines bloßen Glaubens an materialfalsche Urteile als solche an, sondern eine psychoanalytisch bestimmte Form von Unvernunft, deren Logik beide zunächst am Individuum entwickeln. Lacans ebenfalls an der individuellen Psychose entwickelte Kritik zeitge- nössischer Wahnbegriffe lässt sich deshalb auch für das Verständnis des so- zialpathologischen Wahns bei Horkheimer & Adorno fruchtbar machen, weil sie eine falsche Auffassung der Form des Psychotischen und Wahnhaften überhaupt treffen will. Wenn Horkheimer & Adorno den Wahnbegriff zur Be- schreibung der Form sozialer Strukturen nicht bloß metaphorisch verwenden, 11 Adorno selbst stellt einen direkten Zusammenhang zwischen den in der Dialektik der Aufklärung angestellten Überlegungen und den Studien zum autoritären Charakter her: „Das Kapitel ‚Elemente des Antisemitismus‘ in der ‚Dialektik der Aufklärung‘ […] war verbindlich für meinen Anteil an den später mit der Berkeley Public Opinion Study Group durchge- führten Untersuchungen. Sie hatten ihren literarischen Niederschlag in der ‚Authoritarian Personality‘“ (Adorno 1969, S. 132 zitiert nach Tiedemann 2003, S. 412). Die wechselseitige Durchdringung beider Werke wird begrifflich immer wieder deutlich, so entsprechen die positivistische und idealistische Subjekt-Objekt-Relation im sechsten Abschnitt der Elemente des Antisemitismus den epistemologischen Positionen der autoritären Typen des Manipulativen und des ‚Spinners‘ aus den Studien (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 212; Adorno 1995, S. 331–339). Auch in den Minima Moralia nimmt Adorno die dort formulierten Gedanken wieder auf. Dort tauchen zum Beispiel der ‚tough guy‘ und der Manipulative in den Aphorismen 24 „Tough Baby“ und 147 „Novissimum Organum“ wieder auf; der ‚tough guy‘ fiel in der deutschen Ausgabe der Studies jedoch der Übersetzung zum Opfer und wurde zum ‚Rowdy‘, wodurch sie den Nachvollzug dieser Anspielung Adornos verhindert (vgl. Adorno 1995, S. 328–331, 334–339; Adorno 2003a, S. 479–483, 486–491). sondern – wie hier plausibel gemacht werden sollte – begrifflich-analytisch, dann muss Lacans Kritik an der Rolle der Projektion und der Verdrängung im Wahn Implikationen für ihren Begriff von Paranoia haben: Denn er stützt sich maßgeblich auf die pathische Projektion als Konstitutionsmechanismus des Wahns und steht dem Begriff der gesellschaftlichen oder „objektivierten, kollektiven, bestätigten Formen des Wahns“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 220) explizit Modell (vgl. ebd., S. 209–223). Ob es soziale Pathologien überhaupt gibt und ob der Unterschied zwi- schen Sozial- und Individualpathologien ein kategorialer ist, sind zwei Fra- gen, die für die unmittelbar angestrebte Rekonstruktion des Wahnbegriffs bei Horkheimer & Adorno noch nicht zu klären sind.12 Hier ist – sofern diese Arbeit mögliche Konsequenzen für ihren Begriff sozialpathologischen Wahns haben soll – nur von Interesse, dass sie die erste Frage mit Ja und die zweite mit Nein beantworten.13 Ob ihre Gründe für diese Antworten plausibel sind, müsste Gegenstand einer weiteren und gänzlich anders ausgerichteten Ar- beit sein. Erst wenn man sich auf die hier als gültig vorausgesetzte Prämisse Horkheimer & Adornos einlässt, dass die Unterscheidung von individuellem und sozialpathologischem Wahn eine interne Unterscheidung zweier kon- kreter Formen desselben Begriffs ist, kann der sozialphilosophische Blick ein genuines Interesse an der Frage nach dem Psychotischen der Psychosen und dem Wahnhaften des Wahns entwickeln. 12 Zur Abgrenzung der sozialen Pathologie von der biologischen und der individualpa- thologischen vgl. Honneth 1994, S. 49f. Das dort von Honneth angesprochene Maßstabsproblem zur Diagnose von sozialen Pathologien registriert bereits Freud (vgl. Freud 1952o, S. 504f.). Honneth sieht trotz der Trennung von sozialer und individueller Pathologie innerhalb der Kritischen Theorie eine enge Verzahnung zwischen der gesellschaftlichen Irrationalität sozialer Pathologien und dem von dieser Blockade der Selbstverwirklichung der Subjekte produzierten psychischen Leiden (vgl. Honneth 2007, S. 50–53). 13 Zum Stellenwert sozialer Pathologien innerhalb der Kritischen Theorie vgl. Honneth 2007, S. 28–56. Insbesondere Rolf Pohl hat in hervorragender Weise den Unterschied zwischen der Individual- und der Massenpsychose herausgearbeitet (vgl. Pohl 2006, S. 62–73). 13 2. Neurose und Psychose in Freuds kleinen metapsychologischen Schriften Horkheimer & Adorno selbst haben sich nur implizit zur Metapsychologie der Psychosen und des Wahns geäußert. Sowohl in der Dialektik der Aufklärung als auch in ihren sozialpsychologischen und sozialphilosophischen Schriften setzen sie die Kenntnis der Freud’schen Arbeiten zu den Psychosen, der Para- noia, dem Narzissmus und der Projektion voraus (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 215; Adorno 2003g, S. 576, 578f., 580, 586, 588–590, 592f.; Adorno 2003c, S. 135f., 163f., 175, 228f., 231–233, 241, 244f., 247, 251–256, 280f., 305; Adorno 1995, S. 21–24, 50–61, 331–338; Adorno 2003e, S. 562–564). Um hier einen ersten Begriff des Psychotischen und des Wahnhaften anzugeben, der im Laufe der Arbeit präzisiert werden soll, werden zunächst Freuds kleine metapsychologische Schriften zur Abgrenzung der Neurosen und Psychosen konsultiert, die sich auf die je verschiedene Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Wirklichkeit konzentrieren. Anschließend werden die hier notwendig skizzenhaft und voraussetzungsreich eingeführten Begriffe syste- matischer erläutert und als Folie verwendet, vor der Horkheimer & Adornos und Lacans Überlegungen plastischer hervortreten können. 2.1 Neurose und Psychose als Skotomisierung14 von Innen und Außen Sowohl der Begriff des Psychotischen im Allgemeinen als auch der Begriff des Wahnhaften im Speziellen implizieren einen Begriff von Wirklichkeit, da beide ein defizitäres Verhältnis des psychotischen oder wahnhaften Subjekts 14 Der Begriff der Skotomisierung (nach σκότος, „Dunkelheit“) meint die psychische ‚Verdun- kelung‘ eines Stücks der Wirklichkeit, also die durch einen Abwehrvorgang erfolgende, systematische Unzugänglichkeit eines Wirklichen (vgl. Lacan 2016d, S. 56). Freud weist dieses Wort hinsichtlich der Psychosen in seiner Untersuchung über den Fetischismus zurück, insofern es sich beim Skotomisierungsprozess nicht um die einmalige Verdun- kelung einer Wahrnehmung handelt, sondern um eine kontinuierliche Anstrengung, ihre zu dieser Wirklichkeit ausdrücken sollen.15 Wie aber die Form dieses Defizits bestimmen? Es läge nahe, wie Freud es einmal behelfsmäßig tut, den Unter- schied zwischen Subjekt und Wirklichkeit mithilfe der Unterscheidung von Innen und Außen zu fassen, um in diesem Feld das Charakteristikum der Psychosen als einem pathologisch zusammenhängenden Symptomkom- plex als den Kompensationsversuch der Skotomisierung (eines Stücks) der äußeren Wirklichkeit aufzufassen, wogegen die Neurosen versuchen, die Skotomisierung (eines Stücks) der inneren Wirklichkeit zu kompensieren (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 209, 211–213; Freud 1952l, S. 389). Diese Art, die Psychosen und spezieller den Wahn zu denken, lässt sich so skizzieren: Ein schwerwiegender Konflikt des Subjekts mit seiner Umwelt wird von diesem dadurch zu lösen versucht, dass das Ich den konfliktvol- len, unannehmbaren Außenanteil verdrängt, indem es seinen Objekten die Libido-Besetzung entzieht und auf das narzisstische Stadium seiner Libi- do-Organisation regrediert. Auf diese Weise versucht es, alle Lustquellen zu absorbieren – sie mit sich zu identifizieren – und alle Unlustquellen aus sich auszustoßen: Es organisiert die Lust/Unlust-Unterscheidung entlang der Dif- ferenz von Innen und Außen und löst letztere eben damit als eigenständige Bedeutung loszuwerden (vgl. Freud 1952n, S. 312f.). Für die Neurosen behält er den Begriff der Verdrängung bei, während er für die Psychosen von Verleugnung spricht (vgl. ebd., S. 313). Die im Fetischismus-Text von Freud vorgenommene Revision seiner Ansichten über die Psychosen konnte in diesem Kapitel aus Gründen des Umfangs leider nicht mehr syste- matisch berücksichtigt werden. Sofern man Skotomisierung hier zunächst in einem weiten, allgemeinen Sinne als das Ziel neurotischer und psychotischer Konfliktlösungsstrategien versteht, deren Form im weiteren Verlauf der Arbeit weiter konkretisiert wird, ist er als hilfreiche Erstbestimmung für den Zweck dieser Arbeit jedoch gut zu gebrauchen. 15 Im Folgenden wird Freuds Begriff der Realität terminologisch in den Begriff der Wirklichkeit überführt. Diese Abänderung nimmt hier bereits die erst ab Kapitel 4.2.II eingeführte begriffliche Abgrenzung der imaginär-symbolischen Wirklichkeit von Lacans Register des Realen terminologisch vorweg, ohne doch hier schon erläutert werden zu können (vgl. Kupke 2012, S. 111; Kadi 2012, S. 88–92). Griffig ist sie jedoch auch bei Christian Kupkes Erläuterung der Unterscheidung zwischen Wahrnehmungsschein (Halluzination) und Reali- tätsverzerrung (Wahn) dargelegt (vgl. ebd., S. 111f.). 14 2.2 Der Wahn als Wirklichkeitsersatz Die Unterscheidung von Neurose und Psychose als Skotomisierung von Innen und Außen wurde jedoch mit Freud als bloß behelfsmäßig charakterisiert. Denn Freud selbst wendet gegen diese Bestimmung ein, dass auch bei den Neurosen regelmäßig eine Skotomisierung der äußeren Wirklichkeit erfolgt – z. B. durch Vermeidung oder Amnesie (vgl. Freud 1952k, S. 367). Freud ver- mag es allerdings, diesen scheinbaren Widerspruch durch eine funktionalis- tische Betrachtung aufzulösen: Die Skotomisierung der äußeren Wirklichkeit steht im Falle der Neurosen im Dienst der Skotomisierung der inneren. Das in der Phobie ängstigende Objekt wird bspw. erst deshalb vermieden, weil es zum Symbol einer Triebregung wurde, die vom Ich im Zeichen seiner Kompli- zenschaft mit den Anforderungen der äußeren Wirklichkeit nur unzureichend verdrängt wird: „Bei der Psychose folgt auf die anfängliche Flucht eine aktive Phase des Umbaues [der Wirklichkeit – Anm. d. A.], bei der Neurose auf den an- fänglichen Gehorsam ein nachträglicher Fluchtversuch. Oder noch an- ders ausgedrückt: Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu erset- zen.“ (ebd., S. 365) Bedeutet die psychotische Krise also eine das Psychotische als solches kenn- zeichnende Flucht von einem Teil der äußeren Wirklichkeit oder sogar von ihr als ganzer, so erweist sich das psychotische Symptom des Wahns hier eben- so wie das neurotische nicht nur als Abkehr vom Verdrängten, sondern auch als dessen Wiederkehr. Diese Wiederkehr geschieht im Wahn als eine Wie- derkehr zum Verdrängten, zur Wirklichkeit – aber in der Form eines Wirklich- keitsersatzes. Eben das besagt die „aktive Phase des Umbaues“ (ebd.), die in auf. Denn auf diese Weise lässt das „Lust-Ich“ (Freud 1952f., S. 228) den Ob- jektcharakter seiner Objekte nicht nur unbedeutend, sondern sogar bedeu- tungslos werden, wodurch es seine Fähigkeiten zum wirklichkeitsgerechten Umgang respektive dieses Teils oder sogar im Ganzen zerstört (vgl. Freud 1952k, S. 366; Freud 1952d, S. 307f.). Das Begehren kann vom Subjekt weder aufgegeben noch in der Außenwelt verwirklicht werden, sodass es stattdes- sen ein Loch in seine innere Repräsentation der Außenwelt reißt und sich so umbildet, dass nun seinen wahnhaften Wunscherfüllungsphantasien im Sin- ne der Triebanforderungen des Es anstelle der skotomisierten Wirklichkeit der Realitätscharakter zukommt (vgl. Freud 1952l, S. 389). Neben dem ersten Moment der ursprünglichen psychotischen Krise als einem Konflikt von Triebleben und Außenwelt, bei dem die Außenwelt ver- drängt wird, und dem darauffolgenden Vorgang der Wahnkonstitution durch die psychotische Projektion als dem Kompensationsversuch der psychoti- schen Konfliktlösungsstrategie bildet der weitere Umbau des Ichs als der in- ternen Strukturierung der Wahneinfälle und ihrer zunehmenden Abriegelung gegen Korrekturbemühungen das letzte Moment der Wahnkonstruktion. Der Ätiologie von Neurose und Psychose ist hier also der Begriff des Kon- flikts gemeinsam. Unterschiede finden sich erst in seinem spezifisch neuroti- schen oder psychotischen Verarbeitungsmodus, der entweder zulasten des Es oder zulasten der Außenwelt aufgelöst wird, und – daraus folgend – der neurotischen und psychotischen Symptombildung, die als eigentliche Neuro- se oder Psychose erscheint und bereits der Versuch einer Kompensation des zugrundeliegenden Konfliktbewältigungsmodus ist. So wie das Subjekt in der Neurose dem aufgegebenen, verdrängten Trieb über den Weg des Symptoms eine Ersatzbefriedigung verschafft, so ersetzt es sich im Wahn eine aufgege- bene Wirklichkeit, in der Es nun Befriedigung finden kann (vgl. ebd., S. 388f.). 15 aktuellen Wahntheorien als „Wahnarbeit“ (Berner 1982, zitiert nach Stompe & Schanda 2012, S. 261) bezeichnet wird. Das die psychotische Krise durchle- bende Ich versucht, seine psychotischen Erlebnisse auszudeuten und die sich ihm in deren Negation meldende äußere Wirklichkeit mit ihnen in Einklang zu bringen, sodass sich in einem Prozess kontinuierlichen Austarierens der beiden Pole von Rationalisierung und Wirklichkeitsverweigerung die spezi- fische Ökonomie des konkreten Wahnsystems herausbildet.16 Im Gegensatz zur einfachen Konzeption des Wahns als einer bloßen Entkopplung des Sub- jekts von der Wirklichkeit finden sich im Begriff des Wahns als Wirklichkeits- ersatz also folgende Arten von Wirklichkeitsbezug: 1. Dasjenige Stück der Wirklichkeit, das die Psychose flieht, und der Wahn wie- derum zu ersetzen sucht: ihr Anlass (vgl. Stompe & Schanda 2012, S. 263).17 2. Jene Elemente des Es, die als Phantasie den zu organisierenden „Stoff“ (Freud 1952k, S. 368) von Psychose und Wahn bilden und aus psychisch modifizierten, vom Realitätsprinzip zwar relativ frei gehaltenen, aber den- noch aus der Wirklichkeit stammenden Erinnerungsspuren bestehen: ihr Material oder ihre „Vorratskammer“ (ebd.). 3. Dasjenige Moment in der Wahnkonstruktion, das unter dem Titel der Rati- onalisierung aufgerufen wurde. Ganz im Sinne ihrer Definition durch Ador- no als „Vernunft im Dienst der Unvernunft“ (Adorno 2003g, S. 576) ver- sucht die Rationalisierung, das an sich unwirkliche Erleben der Psychose in 16 Christian Kupke plädiert deshalb dafür, hinsichtlich des Wahns nicht von einem Wirklich- keitsverlust oder Wirklichkeitsersatz, sondern von einer Realitätsverzerrung zu sprechen, da beide nur Aspekte des Gesamtphänomens erfassen (vgl. 2012, S. 112 Anm. 8). 17 Stompe & Schanda unterscheiden unter Bezugnahme auf Berner drei verschiedene Formen des möglichen Wirklichkeitsbezugs im Wahn: Polarisierter Wahn (Verzahnung von Wahn- und Außenwelt) und Juxtaposition (gegeneinander gleichgültiges Nebeneinander- bestehen von Wahn- und Außenwelt) bedeuten eine interne Unterscheidung innerhalb der bestimmten Negation der Außenwelt, während der autistische Wahn mit ihrer abstrakten Negation zusammenfällt. seinem Wirklichkeitscharakter zu plausibilisieren. Alle Zugeständnisse an die Wirklichkeit werden dabei nur um den Preis der Aufrechterhaltung der psychotischen Flucht vor ihr eingegangen: Dieses Moment ist ihre Anpas- sung oder Normalität (vgl. Freud 1952k, S. 364–366). Diese anfängliche, grobe Skizze der genuin psychotischen oder wahnhaften Qualität einer defizitären Beziehung zur Wirklichkeit ist hochgradig voraus- setzungsvoll und erläuterungsbedürftig. In diesem Sinne werden die drei Mo- mente des Wahns in den folgenden Kapiteln präziser mit Freuds und Hork- heimer & Adornos Begriffen entfaltet und erläutert und mit Lacans Kritik zeitgenössischer Psychose-Begriffe konfrontiert, um erstere zu prüfen und – wo sinnvoll oder nötig – zu ergänzen oder zu revidieren. 16 3. Psychotische Krise: Ich-Schwäche Das erste der drei Momente – die psychotische Krise – wirft die Frage danach auf, was das Subjekt zur Wahl einer psychotischen Konfliktlösungsstrategie veranlasst. Zur Klärung ist hier zunächst eine schlaglichtartige Situierung der psychotischen Konfliktlösungsstrategie innerhalb des Freud’schen Instanzen- modells hilfreich, um die anschließende Hinwendung zu Adornos Theorie der Ich-Schwäche zu plausibilisieren: Wie bereits erläutert, nimmt Freuds Unter- scheidung von Neurose und Psychose den qualitativen Unterschied zwischen ihnen als den einer je besonderen Art von Wirklichkeitsverlust und -ersatz in den Blick. Diese qualitative Differenz erklärt er jedoch als das Ergebnis ei- nes quantitativen oder, wie Freud sagt, „ökonomischen“ (Freud 1952l, S. 391) Kräfteverhältnisses zwischen der Außenwelt und den psychischen Instanzen von Es, Ich und Über-Ich. 18 Innerhalb des zwischen diesen vier Momenten auf- gespannten Feldes kennt Freud drei mögliche Ausgänge eines Konflikts zwi- schen den Triebansprüchen des Es und den Triebansprüchen der Außenwelt (bzw. dem Über-Ich als innerem Repräsentanten von Außenweltansprüchen): Erweisen sich Es und Ich als stark genug, so setzen sie die Triebansprüche des Es gegen die Außenweltansprüche durch: Das Ich negiert die Ansprüche der Außenwelt an sein Triebleben, und zwar so, dass es die Außenwelt zu ver- ändern sucht. Freud nennt dieses Verhalten der psychischen Instanzen „allo- plastisch“ (Freud 1952k, S. 366, Hervorhebung im Original), „‚gesund‘“ oder das „zweckmäßige, normale Verhalten“ (ebd., S. 365). Wo das Ich dem Es die Triebabfuhr nicht in dieser Veränderung der Außen- welt ermöglichen kann oder sie ihm als versperrt erscheint, wird die psychi- sche Arbeitsleistung durch das Ich stattdessen an der Psyche selbst vollzo- 18 Eine grundlegende Kenntnis des Freud’schen Instanzenmodells der Psyche wird im Folgenden vorausgesetzt. Wo nötig, wird auf deren spezifische Funktionen genauer einge- gangen; insbesondere, wo die Psychose als eine bestimmte Veränderung eben dieser Funktionen vorgestellt werden wird. gen. Zuerst erwähnt sei hier ein bloß vorübergehender Fall intrapsychischer Arbeit, nämlich dass Ich und Es sich zunächst gegen das Über-Ich durchsetzen müssen. Dieser Prozess intrapsychischer Modifikation ist jedoch deshalb nur zunächst einer, da er nach der Überwindung des Widerstands des Über-Ichs dennoch auf den Versuch der alloplastischen Veränderung hinausläuft. Jene Arbeitsleistung am Über-Ich kann einerseits im Modus der Überwältigung stattfinden, nach der es sich als schlechtes Gewissen meldet, andererseits kann sie – insbesondere im Rahmen einer psychoanalytischen Therapie – als nachhaltiges Herabsetzen der Anforderungen der internalisierten Triebzen- sur erfolgen (vgl. Freud 1952o, S. 503). Unterdrückt das Ich die Befriedigung verlangende Triebregung, indem es sie in Einklang mit der Außenwelt oder dem Über-Ich verdrängt, so geht die- se Modifikation zulasten des Es aus. Hierfür muss das Ich eine ausreichend große Menge an Triebenergie mobilisieren können, die es zur dauerhaften Bindung der verdrängten Triebregung aufwendet (vgl. Freud 1952g, S. 253f.). Misslingt diese Verdrängung jedoch teilweise, weil die Intensität der Triebre- gung zu groß ist, so kommt die abgewehrte Triebregung über einen komple- xen Prozess der Kompromissbildung mit der Ich-Abwehr auf eine Weise zu ei- ner Ersatzbefriedigung, in der sie dennoch unbewusst bleibt. Dieser Prozess ist die neurotische Symptombildung, weshalb Freud die Neurose als „Erfolg einer mißglückten Verdrängung“ (Freud 1952k, S. 364) charakterisiert: Die Verdrängung missglückt, weil die verdrängte Triebregung sich im neuroti- schen Symptom eine Ersatzbefriedigung zu verschaffen in der Lage ist, an- statt vollständig verdrängt zu werden; sie ist ein Erfolg, weil die der Neurose zugrundeliegende Triebregung ihr eigentliches Triebziel nicht erreicht und ihre Existenz in der Psyche dem Bewusstsein unzugänglich bleibt.19 19 Auf diese doppelte Funktion der neurotischen Abwehr verweist auch Mentzos (vgl. 2016, S. 31f.). 17 Wo dem Ich nicht genug Triebenergie zur Verfügung steht, um sie allo- plastisch abzuführen, sie zu verdrängen oder in einer Neurose verdrängt zu ersatzbefriedigen, vollzieht es bestimmte Modifikationen an sich selbst, um den Es-Ansprüchen gerecht zu werden. Diese genuin psychotische Arbeits- leistung des Ichs an sich selbst nennt Freud deshalb „autoplastisch“ (Freud 1952k, S. 364, Hervorhebung im Original). In den Kapiteln zur Wahnkonsti- tution und -konstruktion wird präzisiert, wie genau diese Arbeitsleistung und ihre Ergebnisse von Horkheimer & Adorno gedacht werden. Zunächst gilt es jedoch festzuhalten, dass Freud den psychotischen Konfliktbewältigungs- versuch als das Ergebnis einer bestimmten Kräftekonstellation von inneren und äußeren Faktoren begreift, in der dem Ich aufgrund der überwiegenden Stärke aller anderen Faktoren jeder alternative Konfliktlösungsweg als der psychotische versperrt erscheint; in der also in Relation zur Außenwelt und zum Es eine Schwäche des Ichs besteht. Anhand von Adornos ebenfalls triebökonomischem, aber wesentlich charakteranalytischem Begriff der „Ich-Schwäche“ (Adorno 1995, S. 53) soll im Folgenden expliziert werden, welche strukturellen Kennzeichen eine Ich-schwache Psyche aufweist. Auch wenn Adorno mit diesem Begriff eine auf Dauer gestellte psychische Disposition meint und nicht auf die Analyse der Triebökonomie akuter psychotischer Krisen abhebt, so gibt es doch zwei gewichtige Gründe für die theoretische Auseinandersetzung mit ihm: Einer- seits – und dies ist das primäre Erkenntnisinteresse dieser Arbeit – erlaubt sie, eine Antwort auf die allgemeinere Frage zu geben, was es hier heißen soll, dass das Ich schwach ist, worin sich also seine Schwäche ausdrückt. Ande- rerseits liefert sie bereits einen sozialpsychologischen Anknüpfungspunkt für die hier angestellten Überlegungen zum Wahnbegriff, insofern Adorno mit der Ich-Schwäche ein u. U. präpsychotisches Charaktermerkmal beschreibt, das zur Erklärung der besonderen Anfälligkeit bestimmter Subjekte für (so- zial-)pathologische Wahnformen und ihre verschiedentlich rationalisierten Abstufungen dient (vgl. ebd., S. 50–61, 314f., 331–339).20 Es wird sich zeigen, dass die Ich-Schwäche in einem psychisch funktionalen Fehlschlagen derje- nigen „Vermittlung“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 212) erscheint, die die ureigenste Funktion des Ichs ist: seines Urteils. 3.1 Mündigwerdung als Genese der autonomen Ich-Organisation Um einen begrifflichen Idealtyp von Ich-Schwäche entwickeln zu können, muss die Analyse zunächst einen Begriff des Ichs bestimmen, demgegenüber sich andere Formen der Ich-Organisation als defizitär angeben lassen. Diesen Idealtyp bezeichnet Adorno mitunter als „autonomen, also mündigen Men- schen“ (Adorno & Becker 2015, S. 139f.) und beschreibt den Prozess der Mün- digwerdung, also der Ausbildung einer autonomen Ich-Organisation, unter Rekurs auf Freud wie folgt: „Der Prozeß ist doch der, daß Kinder – Freud hat das als normale Ent- wicklung bezeichnet – im allgemeinen mit einer Vaterfigur, also mit einer Autorität sich identifizieren, sie verinnerlichen, sie sich zu eigen machen, und dann in einem sehr schmerzhaften und nie ohne Narben gelingen- den Prozeß erfahren, daß der Vater, die Vaterfigur dem Ich-Ideal, das sie von ihm erlernt haben, nicht entspricht, dadurch sich ablösen und erst auf diese Weise überhaupt zum mündigen Menschen werden. Das Mo- ment der Autorität ist, meine ich, als ein genetisches Moment von dem Prozeß der Mündigwerdung vorausgesetzt.“ (ebd., S. 140) 20 In Hinblick auf argumentativ rationalisierende Formen von Schuldabwehr – nicht hinsichtlich der Konstruktion von Charaktertypen, aber gleichwohl mit dem Konzept des autoritären Charakters als theoretischem Hintergrund – vgl. Adorno 2003c, S. 175, 181, 190f., 200–207. Zur Diskussion des sozialpsychologischen Sinns von Charaktertypologien vgl. Adorno 1995, S. 303–314. 18 Adorno unterscheidet hier eine autoritätsgebundene Form der Ich-Organi- sation, die den ontogenetischen Ausgangspunkt eines jeden Prozesses der Mündigwerdung bildet und für die das Verhältnis des Kindes zum Vater pa- radigmatisch ist, von der autonomen Ich-Organisation, die dessen Zielpunkt ist. 21 Im Folgenden soll die psychoanalytische Logik dieser Mündigwerdung hinreichend skizziert werden, um verstehen zu können, wie der Vater in den Prozess der Ablösung eingreifen kann, sodass das Kind in der Folge ein auf Dauer gestelltes Abhängigkeitsverhältnis zur Autorität entwickelt. Diese au- toritäre „Fixierung“ (Freud 195d, S. 303) erscheint darin, dass die so fixierte Psyche sachwidrige Abhängigkeitsverhältnisse zu äußeren Autoritäten sucht oder bereitwillig in ihnen verharrt, ohne Widerstände dagegen zu empfinden oder Widerstand gegen sie zu leisten.22 Das Kind, das sich in seiner Situation objektiver Hilflosigkeit und Abhän- gigkeit befindet, ist für die Befriedigung seiner Triebe auf den Vater und des- sen Liebe zu ihm angewiesen, die in seiner Sorge um das Triebleben des Kin- des erscheint. Um seine Lust zu maximieren und seine Unlust zu minimieren, muss sich das Kind folglich einem aus seiner Sicht zunächst völlig arbiträren System symbolisch organisierter, vom Vater eingesetzter Regeln unterwer- fen, die bestimmten Triebverzicht belohnen und bestimmte Triebbefriedi- gungen sanktionieren. Die aus diesen Versagungen entspringende Aggressi- on kann das Kind gegen den Vater oder gegen sich selbst richten. Richtet es sie gegen den Vater, so kann sie nicht in jedem Fall sofort erfolgreich sein, 21 Wie Adorno im Zitat anzeigt, fällt die Vaterfigur – oder wie Lacan präziser sagt: „Nicht der natürliche Vater, sondern das Eingreifen dessen, was sich der Vater nennt“ (Lacan 2016d, S. 116) – nicht immer mit dem konkreten, personifizierten oder gar biologischen Vater zusammen. Was die Vaterfigur zu sich selbst macht, ist ihre Form als personaler Reprä- sentant gesellschaftlicher Autorität, die dem Subjekt „ein Gesetz […], eine Kette, eine symbolische Ordnung“ (ebd.) gibt, die ihm vorausgeht und in die es durch sie eingeführt wird. 22 Adorno unterscheidet immer wieder deutlich bspw. zwischen anzuerkennender Autorität, z. B. der Sachautorität oder – in bestimmten Phasen der Psychogenese – die väterliche, und unangemessener (vgl. Adorno & Becker 2015, S. 139; Adorno 2003g, S. 575). selbst wenn sie im Einzelfall oder sogar in vielen Einzelfällen den Umsturz des Verbots zur Folge hätte. Es gibt folglich immer Fälle, in denen die geäußerte Aggression (vorerst) ins Leere läuft und also keine alloplastische, befriedi- gende Veränderung nach sich zieht, die das Kind weit überwiegend bloß ver- mittelt durch die Mitwirkung des Vaters zu erwirken in der Lage wäre; oder aber die geäußerte Aggression wird sanktioniert. In beiden Fällen kann die Aggression ihr Triebziel und das Triebziel des ursprünglichen, sanktionierten, aggressiven oder libidinösen Triebes nicht erreichen; in letzterem Falle wird dem Kind durch die Sanktion sogar noch weitere Aggression durch die väter- liche Sanktion introjiziert. 23 Da die Wendung nach außen, die alloplastische Veränderung, wirkungs- los bleibt, sucht die unbefriedigte Aggression sich ein Ersatzobjekt, das sie im sanktionierten Trieb findet, gegen den sie sich nun wendet. Weil das Kind die Liebe seines Vaters zu ihm nicht gefährden kann, identifiziert es sich mit der ihm introjizierten, väterlichen Aggression. Auf diese Weise kann es die unbefriedigte Aggression gegen den ge- und verbietenden Vater an sich selbst als einem Ersatzobjekt partiell befriedigen und zugleich die Störung der Vater-Kind-Beziehung vermeiden. Der ursprünglich sanktionierte Trieb sucht sich entweder auf dem Weg der Sublimierung ein anderes, anerkann- tes Triebziel oder wird dauerhaft über die Gegenbesetzung mit Aggression verdrängt, so wie die noch unbefriedigte Restaggression gegen die Autorität durch deren Gegenbesetzung mit Libido abgewehrt wird. Die Liebe zum Va- ter produziert so auch die libidinöse Besetzung seines Codes. Weil das Kind 23 Diese Arbeit folgt in der Unterscheidung von Introjektion und Identifikation als zweier verschiedener Mechanismen der Verinnerlichung den Arbeiten Mathias Hirschs (vgl. Hirsch 1996, S. 198–205; Hirsch 1998, S. 109–120). Introjektion bezeichnet dabei lediglich die Verinnerlichung eines Objektanteils demgegenüber das konkrete Verhältnis der verschie- denen psychischen Instanzen und Selbstanteile noch unbestimmt ist. So kann bspw. ein (auto-)aggressiv besetztes Täter-Introjekt als ich-dyston empfunden werden; von Identi- fikation kann allenfalls als unbewusster die Rede sein. In Hirschs Terminologie setzt die Identifikation dagegen den introjizierten Objektanteil bereits als ich-synton voraus. 19 seinen Vater liebt und von ihm geliebt werden will, wird das kindliche Ich des- sen Autorität „verinnerlichen“ (Adorno & Becker 2015, S. 140), indem es seine Ge- und Verbote und deren Applikations- und Subsumtionsregeln in einem komplexen Prozess von Introjektion und Identifikation als Über-Ich gegen die tabuierten Triebregungen des Es aufrichtet. So versucht das Kind, seine Triebstruktur in Einklang mit den Anforderungen seiner sozialen Umwelt zu bringen (vgl. Adorno 1995, S. 52f.). Damit es sich jedoch so verhalten kann, wie es soll, muss das Kind ebenso hinreichend verinnerlichen können, was ist: „Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurückläßt: die Einheit des Dinges in seinen mannig- faltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert damit rück- wirkend das Ich, indem es nicht bloß den äußeren, sondern auch den von diesen allmählich sich sondernden inneren Eindrücken synthetische Ein- heit zu verleihen lernt.“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 211) Jene Fähigkeiten, die das Ich zum Fremdverstehen und zur Selbstbeobach- tung und -zensur, d. h. zum Lernen und Einhalten des sozialen Codes ausbil- den muss, um das eigene Triebleben in Entsprechung mit ihm zu organisie- ren, befähigen es jedoch zunehmend dazu, auch die Tabubrüche des Vaters zur Kenntnis zu nehmen. Das dadurch entstehende Dilemma zwischen dem libidinös besetzten Code und dem libidinös besetzten Vaterobjekt kann vom Ich in verschiedene Richtungen aufgelöst werden: 1. Es kann sich selbst verändern, indem es den väterlichen Fehler auf sich nimmt, ihn so verdrängt und an der unumstößlichen Autorität des Vater- objekts festhält. 2. Es kann sein Verständnis der Regel verändern, also sein Über-Ich modifi- zieren und präzisieren; aber nur, sofern der Regelverstoß des Vaters tat- sächlich eine plausible Ergänzung des dem Ich bekannten, sozialen Codes darstellt. 3. Es kann das Vaterobjekt verändern, indem es an der Geltung der Regel festhält; dies aber bedeutet eine Herabsetzung der Autorität des Vaters, von dem der soziale Code ursprünglich empfangen wurde. Die Autorität des Vaters infrage zu stellen, produziert so zugleich die Mög- lichkeit, die Autorität des Codes zu hinterfragen – und zwar durch das au- tonome Urteil des Ichs, das hierin nicht mehr auf das Vaterobjekt als einer verinnerlichten äußeren Autorität angewiesen ist. Dadurch überwindet das Ich zugleich die Abhängigkeit seines Urteils vom personellen Vaterobjekt und seinen besonderen, tradierten Regeln hin zur Herrschaftsfunktion des Realitätsprinzips und verwirklicht dessen abstrahierte Anforderung an das Triebleben des Subjekts als regelhaft überhaupt.24 Die väterliche Autorität zu achten, produziert also das kindliche Ich nicht nur als Kontrollinstanz des Es, sondern virtuell auch als Urteilsinstanz über die Autorität und ihre Maß- stäbe. Mit dem Urteil über die Autorität geht zugleich die Verlagerung der Autorität des Urteils einher – weg von ihr und hin zum Ich, sodass das Ich seine eigentliche Funktion als Vermittlungsinstanz zwischen Außenwelt, Über-Ich und Es erst mit seinem Autonom-Werden voll ausübt (vgl. Adorno 1995, S. 52f.). 25 „Mündigwerdung“ (Adorno & Becker 2015, S. 140) bedeutet folglich diesen Prozess von Introjektion, Identifikation und Ablösung, in dem 24 Zum Begriff des Ichs als Herrschaftsfunktion vgl. Lacan 2016d, S. 112. 25 Dieser Prozess der Mündigwerdung findet jedoch nicht nur erstmalig in der Etablierung einer autonomen Ich-Organisation statt, sondern vollzieht sich immer wieder von Neuem, wo das Subjekt in ihm unbekannte, tradierte, soziale Praktiken eingeführt wird. Er gehört zu den immer wieder hintergründig aufgerufenen Theoremen im Werk Adornos – exemp- larisch hier: „Immer wieder hat sich beobachten lassen, wie solche, die blutjung und 20 das Ich die Maßstäbe seines Urteils zunächst als tradierte von einer externen Instanz, einem externen Vaterobjekt empfängt, über die das Ich aber gerade mithilfe dieser Maßstäbe eigenständige Urteile zu fällen lernen kann. Dieser Ablösungsprozess kann jedoch in seiner Entwicklung gestört werden. 3.2 Die Externalisierung von Ich und Über-Ich: Autoritärer Charakter Wie im vorangegangenen Unterkapitel bereits skizziert wurde, ist die Herab- setzung der Autorität des Vaterobjekts und die mit ihr einhergehende Ent- wicklung der autonomen Urteilsfähigkeit des Ichs nicht der einzige Ausweg aus dem Dilemma des Subjekts, das sich durch den Tabubruch des Vaters ge- gen den von ihm gegebenen Code auftut. Die Ablösung vom Vater im autono- men Urteil über ihn und die damit verbundene Herabsetzung seiner Autorität produzieren nämlich in der vormals durch die autoritätsgebundene Form der Beziehungsgestaltung harmonisierten Beziehung des Subjekts zum Vater Dissens und Dissidenz und damit Irritationen. Damit das Subjekt sich erfolg- reich vom Vaterobjekt ablösen kann, darf ihm sein Ablösungsversuch nicht als in hinreichend hohem Maße unlustbringend, lustverhindernd oder sogar existenzbedrohend erscheinen (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 215). Die Angst vor der schieren Menge der dem Subjekt durch einen „erdrückenden, brutalen und überwältigenden Vater“ (Adorno & Becker 2015, S. 141) infolge der Missachtung seiner Autorität introjizierten Aggression oder der generelle Mangel väterlicher Liebe kann so jene volle Identifikation mit dem väterli- chen Code verhindern, die sich in dessen autonomer Aneignung im Urteil des Ichs über den Vater zeigt. nichtsahnend in radikale Gruppen sich einreihten, überliefen, sobald sie einmal der Kraft der Tradition gewahr wurden. Man muss diese in sich selber haben, um sie recht zu hassen“ (Adorno 2003h, Aph. 32). „Sie [die Ich-Schwäche – Anm. d. A.] kommt in der Unfähigkeit zum Aus- druck, innerhalb der Charakterstruktur ein konsistentes und dauerhaftes System moralischer Werte zu errichten, und augenscheinlich ist es diese Situation, die das Individuum nötigt, nach einer organisierenden und ko- ordinierenden Kraft außerhalb seiner selbst zu suchen. Wo moralische Entscheidungen von einer solchen äußeren Macht abhängen, kann von ei- nem veräußerlichten Gewissen gesprochen werden.“ (Adorno 1995, S. 53) Es lassen sich hier grundsätzlich drei mögliche Anknüpfungspunkte bestim- men, über die der Vater eine erste Ablösung unmöglich machen kann. Die Abwehr der eigenen Autonomie, die die Bewusstwerdung des Satzes „Ich ur- teile über den Vater“ zensiert, kann dessen grammatikalisches Objekt, Sub- jekt oder Prädikat negieren. I. Rigidität: Das ‚konventionelle‘ und das ‚autoritäre‘ Syndrom Gibt der Vater einen kohärenten Code, nimmt aber seine Autorität aus des- sen Geltung aus, während zugleich die Herabsetzung seiner Autorität durch das Ich verunmöglicht ist, so wird dessen Urteilsfähigkeit insofern beein- trächtigt, als für es unklar wird, welche besonderen Fälle unter die eigentlich allgemeinen Maßstäbe des sozialen Codes zu subsumieren sind. Für das Ich konstituieren sich zwei separate Sphären: Eine Sphäre unreflektierter sozia- ler Regeln, die für jene gelten, die unter sie unterworfen werden können, und eine Sphäre souveräner, sozialer Macht, die der ungeregelten Autorität des Vaters vorbehalten ist (vgl. ebd., S. 50f.). Die Urteilsfunktion des Ichs wird hier also als allgemeine durch die Umgehung ihrer sachgemäßen Subsumtionsre- geln geschwächt. Diese Form der Autoritätsgebundenheit hat demnach die 21 Revision, d. h. inter-instanzielle Integration durch das Ich, die im „rigiden, automatischen und unsicheren“ (ebd., S. 53) Ich ausbleibt. Alle für das auto- nome Urteil des Ichs nötigen Elemente sind zwar prinzipiell in ihm selbst ver- sammelt, aber weil es vom Vater unbedingt geliebt werden will oder dessen Aggression fürchtet, organisiert es die Abwehr dieser Autonomie. II. Indifferenz: Die Erdrückten Die nächsten beiden Formen der Ich-Schwäche resultieren daraus, dass der Vater dem Ich einen ihm nicht nachvollziehbaren Code gibt, dessen in sich widersprüchliche Regeln dennoch gleichzeitig gelten sollen. Verhindert zu- gleich die Angst vor der Aggression des Vaters eine Herabsetzung seiner Au- torität, so lernt das Subjekt nicht, die Wirklichkeit nach dem Code zu beur- teilen, sondern sein Urteil über die Wirklichkeit an die je situativ geltenden allgemeinen Bestimmungen der Autorität anzupassen. Was hier im Urteil suspendiert wird, indem sie nach väterlichem Belieben ausgetauscht wird, ist die Gültigkeit der je geltenden allgemeinen Urteilsmaßstäbe. Die Allge- meinheit des Codes wird hier nicht durch die Ausnahme des Vaters von den Subsumtionsregeln des Urteils ausgehöhlt, sondern durch die Indifferenz gegenüber der Gültigkeit der Urteilsmaßstäbe insgesamt infrage gestellt. Hier ist die Urteilsfunktion des Ichs also noch grundsätzlicher beeinträchtigt. a. Flexibilität: Der ‚manipulative‘ Typus Diese Form der Autoritätsgebundenheit kann zwei verschiedene gramma- tische Formen annehmen, von denen die erste „Ich urteile nicht über den Vater“ lautet, die also dem grammatischen Subjekt widerspricht und dem „‚manipulativen‘ Typus“ (ebd., S. 334) entspricht (vgl. ebd., 334–339). Um die Beziehung des Ichs zur Außenwelt aufrechterhalten zu können, negiert das Subjekt sich als ein zum Urteil fähiges. Dem Ich müssen die Maßstäbe Grammatik „Ich urteile nicht über den Vater“ und kann sich je nach der sie bestimmenden Triebgrundlage in „das ‚konventionelle‘ Syndrom“ (ebd., S. 319–322) oder in „das ‚autoritäre‘ Syndrom“ (ebd., S. 322–327) entwickeln. Das konventionelle Subjekt folgt dem Vater, weil es sich von ihm die Be- friedigung seiner libidinösen Triebe erhofft, die von diesem jedoch vernach- lässigt werden. So entwickelt es in der Folge einen übermäßig ausgeprägten Wunsch nach der väterlichen Liebe, von der es ausgeschlossen ist: Es veräu- ßerlicht sein Über-Ich, weil es als zugehörig anerkannt sein will; sein Konfor- mismus ist ihm hier das Mittel zur Erfüllung dieses Zwecks. Dagegen folgt das autoritäre Subjekt dem Vater, weil es dessen übermäßige Aggression fürchtet. Es wendet in der Folge die eigenen Aggression gegen sich und ent- wickelt einen irrationalen Bestrafungsdrang gegenüber allem Nicht-Konfor- men. Dem Konventionellen ist die Regelübertretung suspekt: Er will Zusam- menhalt nach innen und Abschottung nach außen. Der Autoritäre dagegen bedarf der Regelübertretung: Bestrafen zu können ist ihm die Bedingung seiner sozialen Integration. Der eine verhält sich zur Abweichung irrational defensiv, der andere irrational aggressiv. Auch wenn hier die Legitimation der Über-Ich-Regeln von einer äußeren Instanz abhängig gemacht und das Über-Ich also externalisiert wird, so ist die Urteilsfunktion des Ichs dabei doch nur partiell geschwächt: Es urteilt nicht über den Vater und ergo auch nicht über die von ihm gegebenen Regeln, be- hält aber die Form der Allgemeinheit des Urteils und die Fähigkeit zur Sub- sumtion des Besonderen unter dieses Urteil grundsätzlich bei, auch wenn diese Allgemeinheit löchrig wird. Denn da die Ablösung von der unumstöß- lichen Autorität des Vaters zugleich die Möglichkeit mit sich bringt, den vom Vater gegebenen Code infrage zu stellen, wird das Ich erst während und nach der Ablösung ein reflektierendes Urteil über die Gültigkeit seiner Geltung und seines Geltungsbereichs treffen können. Der als Über-Ich verinnerlichte Code erführe so eine zunehmende logische Verfeinerung, Ausdifferenzierung oder 22 Was Adorno an dieser Stelle der Minima Moralia als das Ergebnis eines his- torischen, gesellschaftlichen Prozesses der Schizophrenisierung, als Zerfall beschreibt, den er auf den gesteigerten Anpassungsdruck noch der Psyche der Individuen an die flexibilisierten Markterfordernisse des Spätkapitalis- mus zurückführt, erscheint jedoch in der Ontogenese der Ich-Schwäche im Subjekt als Blockade der möglichen Entwicklung des Ichs (vgl. auch Horkhei- mer & Adorno 1989, S. 220–222). Veräußerlicht ist hier nicht nur das Über-Ich, sondern auch das Ich selbst, dessen Integrationsgrad und Urteil völlig von ex- ternen Umständen abhängt. Hier deutet sich an, was erst nach der Behandlung des Mechanismus der narzisstischen Regression, oder wie Lacan sie in Anlehnung an Freud nennt: der „Verwerfung“26 (Lacan 2016d, S. 19, Hervorhebung im Original), voll einsichtig werden kann: warum es gerade diese Form der Ich-Schwäche ist, die sich für Adorno an die Schizophrenie anlehnt. So viel lässt sich mit dem bisher entwickelten Freud’schen Vokabular jedoch sagen: Die Indiffe- renz des Ichs gegenüber der Bedeutung der Maßstäbe seines Handelns und Urteilens, setzt deren Bedeutung als bedeutungslos, was nichts anderes ist als der Entzug ihrer Libido-Besetzung. Die Unterwerfung des Ichs unter die widersprüchlichen, väterlichen Außenweltansprüche produziert die Notwen- digkeit zur Skotomisierung der Außenwelt, um das verängstigte Ich vor der ihm widerfahrenden Aggression des Vaters zu schützen, die es ereilte, nähme es diese Widersprüche als bedeutsame zur Kenntnis. Die Skotomisierung der 26 Lacan zitiert hier aus Freuds Analyse der halluzinatorischen Episode des Wolfsmanns mit der für Lacan bedeutsamen Passage: „Die anfängliche Stellungnahme unseres Patienten gegen das Problem der Kastration ist uns bekannt geworden. Er verwarf sie und blieb auf dem Standpunkt des Verkehrs im After. Wenn ich gesagt habe, daß er sie verwarf, so ist die nächste Bedeutung dieses Ausdrucks, daß er von ihr nichts wissen wollte im Sinne der Verdrängung. Damit war eigentlich kein Urteil über ihre Existenz gefallt, aber es war so gut, als ob sie nicht existierte“ (Freud 1952i, S. 117). Die Wahrscheinlichkeit, dass auch Adorno diese Passage Freuds terminologisch berücksichtigte, ist gegeben, wenn auch gering: In der deutschen Übersetzung seiner Studies finden sich zwei Passagen, in denen seines Urteils als flexibel austauschbar erscheinen, wenn es sie im Einklang mit den arbiträren Anforderungen der externen Autorität modellieren kön- nen soll – eine Forderung, der es gerecht wird, indem es sein Es dauerhaft verstümmelt. Das Ich entzieht seinen Objekten fast ihre gesamte libidinöse Besetzung, verliert jedes eigene Interesse an ihnen, büßt so seine Fähigkeit zu eigenen Wünschen ein, die über (sublimierte) aggressive Phantasien hin- ausgehen und lässt in der Folge seine Triebquellen verkümmern: „Selbster- haltung verliert ihr Selbst“ (Adorno 2003h, Aph. 147). Das Ich übt also nicht mehr die Funktion der Vermittlung verschiedener eigenlogisch organisierter Sphären (Es, Über-Ich, Außenwelt) aus, von denen es als Vermittelndes nicht vollständig bestimmt sein kann. Stattdessen „kom- mandiert“ (ebd.) das Ich das Es und sich selbst gemäß den Anforderungen der Außenwelt. Weil seine Angst vor der väterlichen Aggression das Subjekt daran hindert, dessen Code libidinös zu besetzen, kann es ihn nicht gegen den Vater wenden, indem es ein von ihm als legitim anerkanntes Begehren gegen ihn geltend macht. Damit verliert das Ich jede Möglichkeit des Wider- stands gegen die Ansprüche der Autorität an sein Triebleben und instanziiert sich als deren verlängerter Arm in der Psyche des Subjekts: „Die Eigenschaften, von der echten Freundlichkeit bis zum hysterischen Wutanfall, werden bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situations- gerechten Einsatz aufgehen. Mit ihrer Mobilisierung verändern sie sich. Sie bleiben nur noch als leichte, starre und leere Hülsen von Regungen zurück, beliebig transportabler Stoff, eigenen Zuges bar. Sie sind nicht mehr Subjekt, sondern das Subjekt richtet sich auf sie als sein inwendi- ges Objekt. In ihrer grenzenlosen Gefügigkeit gegens Ich sind sie diesem zugleich entfremdet: als ganz passive nähren sie es nicht länger. Das ist die gesellschaftliche Pathogenese der Schizophrenie.“ (ebd.) 23 (Adorno 1995, S. 331) nennt (vgl. ebd., S. 331–334). Es handelt sich bei ihr um den (Grenz-)Fall einer psychotischen Reaktion, der durch sein beson- deres Verhältnis zu seiner sozialen Umwelt verkompliziert wird.27 Hier lehnt das Subjekt nicht sein eigenes Begehren ab, sondern die symbolisch organi- sierte Wirklichkeit, in der es überhaupt begehren könnte: „Diese Menschen sind in die Isolierung getrieben worden“ (ebd., S. 331, Hervorhebung im Ori- ginal). Das Es übernimmt und bestimmt die Funktionen des Ichs, indem es dieses selbst und seine Objektwelt gemäß seinen unerfüllten Bedürfnissen modelliert. Aber dieselbe überwältigende Angst vor dem Vater, die das Ich von der äußeren Wirklichkeit abstößt und es zur Konstruktion seiner eige- nen, privaten treibt, bindet es unweigerlich an sie: Das Subjekt ist an sich psy- chotisch, nicht aber für sich, insofern seine Angst vor dem Vater den Inhalt seiner Paranoia auf gesellschaftlich Anerkanntes, als noch rational Geltendes beschränkt: „Das Vorurteil ist für sie lebenswichtig; es ist ihr Mittel, akuter Geisteskrankheit durch Kollektivierung zu entgehen“ (ebd., S. 332). Die Psy- chose der ‚Spinner‘ ist sozial angepasst. Sie manifestieren nicht die nötigen Widersprüche zu ihrem sozialen Umfeld, die allein erlaubten, sie im vollen Sinne pathologisch zu heißen. 28 Sie sind es nicht, weil Gesellschaft es ist. 27 Eine ausführliche Behandlung der ‚Spinner‘ könnte erst in einer Arbeit platzhaben, die die hier angestellten Überlegungen zum individualpathologischen Wahn wieder an den Begriff der sozialen Pathologie zurückbände. Hier würde sie den gegebenen Rahmen sprengen. 28 Zum konventionellen Charakter der Unterscheidung zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit in der Freud’schen Psychoanalyse vgl. Freud 1952p, S. 125; Freud 1952o, S. 466, 505; Freud 1952b, S. 8; Freud 1952c, S. 60; Adorno 2003g, S. 578. Außenwelt und dabei insbesondere der Objektwelt durch den Entzug ihrer libidinösen Besetzung ist exakt, wie Freud die Schizophrenie charakterisiert (vgl. Freud 1952d, S. 312–314). b. Isolierung: Der ‚Spinner‘ Die zweite Form der Suspendierung der Allgemeinheit des Urteils über den Vater entwickelt sich um den Einwand „Ich urteile nicht über den Vater“, den Adorno in seiner Form als entfaltete Charakterstruktur den „‚Spinner‘“ in Bezug auf psychische Skotomisierungsprozesse von „verwerfen“ (Adorno 1995, S. 51, 331) die Rede ist. Die Stelle auf S. 51 legt jedoch die Subsumtion der Verwerfung unter den Begriff der Verdrängung nahe, der im nachfolgenden Absatz kursiviert eingeführt wird. Dies entspricht gerade nicht dem von Lacan bei Freud gehobenen Sinn der Verwerfung als einem psychisch grundlegenderen Exklusionsvorgang. Tatsächlich ist auch im englischen Originaltext der Studien an dieser Stelle von „condemn“ (Adorno 2003a, S. 200) die Rede, während die zeitgenössische englische Übersetzung von 1925 durch Strachey das Wort „verwarf“ (Freud 1952i, S. 117) in „rejected“ (Freud 1955, S. 84) überführt. Heute dagegen wird die Verwerfung, oder später bei Freud die „Verleugnung“ (Freud 1952n, S. 313) in der Lacanianischen Tradition überwiegend mit ‚disavowel‘ übersetzt. Die Übersetzung von condemn mit ‚verwerfen‘ in der deutschen Ausgabe der Studies verfälscht hier die Freud’sche Terminologie. In der anderen infrage kommenden Passage auf S. 331 greift Adorno den Begriff der Verwerfung in der deutschen Übersetzung jedoch im Einklang mit Freuds Verwendungsweise auf, wenn er mit ihr den (prä-)psychotischen Skotomisierungs- vorgang der äußeren Wirklichkeit bezeichnet, den die ‚Spinner‘ vollziehen mussten, um mit ihren Versagungserfahrungen umgehen zu können. Hier spricht Adorno auch im engli- schen Original im Einklang mit der Übersetzungsgeschichte von der „violent rejection of the external world“ (Adorno 2003a, S. 483). Dementgegen steht allerdings die Verwendung der Wörter „reject“ (ebd., S. 199), „rejected“ (ebd., S. 201) und „rejection“ (ebd., S. 486) an anderen Stellen der Studies für eine subjektive Haltung der Ablehnung, die hier einfach generalisiert gegenüber der gesamten Außenwelt an den Tag gelegt werden könnte, ohne dass sie deshalb im technischen Sinne verworfen sein müsste. Für die Auslegung im techni- schen Sinne sprechen jedoch wiederum die besondere Betonung im Ausdruck „violent rejection“ (Adorno 2003a, S. 483), die auf den Verwerfungsvorgang gelegt wird, und eben die präzise Übereinstimmung ihrer Bedeutung mit der Freud’schen Prägung des Begriffs. Es ist also denkbar, dass die von Freud angedeutete terminologische Differenz erst im Prozess der Konstruktion konkreter Syndrome in den Studies von Adorno auch in der Terminologie berücksichtigt wurde und in der Dialektik der Aufklärung nur der Sache nach vorhanden war, ohne dass dort von Horkheimer und ihm terminologisch zwischen Verdrängung und Verwerfung unterschieden wurde. 24 der Psyche im strengen Sinne nicht gibt. Diese Form der Ich-Schwäche ist keine Abwehr der Ablösung, sondern eine regressive Ablösung sogar von der Abwehr selbst. Bis hierhin wurde Adornos Begriff der Ich-Schwäche als Blockade oder als Durchkreuzung der autonomen Urteilsfunktion des Ichs rekonstruiert, mit der es die väterliche Autorität als Besonderes unter allgemeine Maßstäbe von Gültigkeit und Geltung subsumieren könnte. Blockiert oder durchkreuzt wird dieses Urteil von der (abgewehrten) Angst vor der Ablösung vom Vater, die in einer übermäßigen Sehnsucht nach seiner Liebe oder aber übermäßiger Angst vor der Bestrafung durch ihn gründen kann. Alle Formen der Ich-schwa- chen Konfliktlösung erfordern dabei gewisse autoplastische Arbeitsleistun- gen des Ichs an sich selbst oder verhindern sogar dessen Ausbildung als ei- genständige Instanz. Die Ich-Schwäche erscheint in jeweils unterschiedlich gelagerten Einbußen in der Urteilsfähigkeit des Ichs als defizitäres, skotomi- siertes Verhältnis zur Autorität, auch wenn sie keine organisierte Psychose als auf dem Wege der Kompromissbildung zustande gekommenen Symptom- komplex bedeutet. In manchen Fällen zeigt sie eine Vulnerabilität oder Dis- position des Subjekts für vollwertig psychotische und wahnhafte Reaktions- formen an, in einem Fall umfasst sie sogar einen (grenzwertig) psychotischen Charaktertyp, aber in allen Fällen – und dies ist der Sinn ihrer Konstruktion in den Studien – soll die Ich-Schwäche die Empfänglichkeit des Subjekts für die Annahme paranoid strukturierter politischer Ideologie erklären (vgl. Adorno 2003c, S. 150, 181, 190f.; Adorno 1995, S. 1–15, 115–125; Adorno 2003d, S. 15; Horkheimer & Adorno 2003, S. 361, 364). III. Aufstand: Der Psychopath Es gibt einen letzten Typ von Ich-Schwäche, der nicht in die Grammatik des Einspruchs gegen den Satz „Ich urteile nicht über den Vater“ passt: den Psy- chopathen (vgl. Adorno 1995, S. 328–331).29 Hier, wie auch beim ‚Spinner‘, hat das Es die Ich-Funktionen übernommen, allerdings nicht durch autoplastische Mittel der Ich-Veränderung, sondern durch die vollständige Beherrschung seiner alloplastischen Funktionen. Die Aggression gegen das väterliche Ver- bot ist hier manifest. Weil jedoch die väterliche Brutalität eine Identifikation mit dem Vater und seinem Code nicht zulässt, ist sie nicht regelförmig über Symbole vermittelt, sondern gegen jede Regel und also ihre Form überhaupt generalisiert: Der Psychopath ist in einem ständigen Zustand des Aufstands gegen jene Gesellschaft gefangen, die ihm Triebverzicht abverlangt. Wäh- rend der ‚Spinner‘ sich nur in die Isolierung zurückziehen kann, kann der Psychopath mit anderen – ganz gleich in welchem Abstufungsgrad – nur durch Gewalt in Verbindung treten. Ihm fehlt die Fähigkeit zur Kooperation im eigentlichen Sinne des Wortes, die eine ausreichende Vermittlung seiner Trieborganisation durch die Sphäre des Symbolischen voraussetzte: Er urteilt nicht über den Vater, sondern richtet alles und jeden in kurzem Prozess – die- sen eingeschlossen. Der Psychopath bedarf keiner Abwehrmechanismen, um sich gegen sein Urteil über den Vater zur Wehr zu setzen, eben weil er nie in jene grundlegende Anerkennungsbeziehung eingetreten ist, die der Vater ihm abzuringen versuchte, und die allein ihm einen Grund gäbe, die Reinheit des Vaterobjekts aufrechtzuerhalten. Hier lässt sich nicht von einem exter- nalisierten Ich und Über-Ich sprechen, weil es sie als organisierte Instanzen 29 Für die Zwecke dieser Arbeit ist es ausreichend, auf den Typ des Psychopathen als drastisch zugespitzter Ausprägung des Rebellen einzugehen, die Adorno gemeinsam behandelt (vgl. Adorno 1995, S. 328–331). Hingewiesen sei hier lediglich auf ihr unterschiedlich akzentu- iertes Verhältnis zur Autorität, das zwar gleichermaßen refraktär feindlich ist, aber beim Rebellen noch von einer untergründigen Bereitschaft zur vorschnellen Unterwerfung unter sie und dem eiligen Paktieren mit ihr begleitet ist. 25 Ich auf immer frühere und für den psychischen Apparat immer kostspielige- re Formen der Konfliktbewältigung zurückgreift, weil deren reifere Formen nicht dazu fähig sind, die durch das väterliche Verbot angestaute Unlustspan- nung zu bewältigen. Die Regression ist deshalb eine narzisstische, weil das- jenige Stadium der Ich-Organisation, das die Unlustspannung in einem hin- reichenden Maße zu bewältigen in der Lage ist, das ontogenetische Stadium des Narzissmus ist (vgl. ebd., S. 297–299). Hier erst wird auch plausibel, warum Ich-schwache Subjekte sehr viel an- fälliger für die narzisstische Regression sind als autonome, mündige Subjek- te: Einerseits bedeutet die Autoritätsgebundenheit ihrer Ich-Organisation, dass sie sich die Möglichkeit zur alloplastischen Veränderung der Außenwelt entgegen den Ansprüchen der Autorität an ihr Triebleben verwehren, ande- rerseits steht einem geschwächten Ich eine ungleich geringere Menge an Triebenergie zur erfolgreichen oder neurotisch misslingenden Verdrängung der anströmenden Libido-Menge zur Verfügung. Denn die Externalisierung des Über-Ichs bedeutet gerade einen Mangel jener hinreichend intensiven li- bidinösen Besetzung des väterlichen Codes, die stark genug gewesen wäre, auch den Vater unter ihn zu subsumieren. Das aggressive Vater-Introjekt setzt derjenigen Menge an Libido Grenzen, die das Ich seinen Objekten zuwenden kann, ohne an der Vernichtungsangst zu rühren: Dass das Über-Ich oder gar das Ich externalisiert sind, bedeutet somit, dass die im Ich bestehenden li- bidinösen identifikatorischen Objektbesetzungen gegenüber väterlichen Außenweltansprüchen prinzipiell fungibel bleiben. Die Ich-Schwäche zieht so eine qualitative und quantitative Begrenzung der extra- und intrapsychi- schen Konfliktlösungsmöglichkeiten des Ichs nach sich, sodass es relativ zum autonomen Ich bereits bei einer geringeren angestauten Unlustspannung narzisstisch regrediert. 4. Wahnkonstitution: Pathische Projektion So aber ist das Zentrum des Problems dieser Arbeit erreicht, denn was soll das nun heißen: vollwertig psychotische und wahnhafte Reaktionsformen? Wenn Adornos Theorem der Ich-Schwäche bis hierher lediglich das (sozial bedingte) Potential für die Entwicklung manifester psychotischer Konfliktlö- sungen oder auch die Gefahr der Annahme von strukturell wahnhaft orga- nisierten Ideologemen zu erklären versucht, wie produziert dann eine akute psychotische Krise die manifeste Wahnkonstitution? 4.1 Narzisstische Regression In seinen Überlegungen zur Theorie der Paranoia beschreibt Freud die psy- chotische Verdrängungsleistung des Subjekts als narzisstische Regression, mit der das Subjekt eine Resexualisierung seiner zu sozialen Trieben subli- mierten Triebregungen zu verhindern versucht (vgl. Freud 1952d, S. 298f., 305–307). Anlass für diese Resexualisierung sei eine „Hochflut von Libido, die keinen andern Ablauf findet […] und somit ihre in der Entwicklung ge- wonnenen Sublimierungen rückgängig macht“ (ebd., S. 298). Diese Hochflut könne entweder durch die Versagung der Befriedigung sozialer Triebe, die Versagung der Befriedigung sexueller Triebe, deren Libido auf die sozialen Triebziele übergreift, oder einen allgemeinen Anstieg des Libido-Niveaus des Subjekts entstehen (vgl. ebd.). Kann die Unlustspannung, die die in ihm unbefriedigte Libido aufrechterhält, nicht durch alloplastische Befriedigung abgeführt werden, muss es demnach auf immer frühere Phasen seiner Libi- do-Organisation und die ihm dort bereits bekannten Wege der Befriedigung von Libido zurückgreifen (z. B. durch die Ersatzbefriedigung in einem sich ak- tualisierenden neurotischen Symptom). Was Freud hier also die Regression der Ich-Organisation nennt, ist nichts weiter als jener Prozess, in dem das 26 I. Ich, Ich, Ich, Ich Das Ich als (Wahrnehmungs-)Bewusstsein ist wesentlich vermittelt, ist immer schon Bewusstsein von x, d. h. Bewusstsein von etwas anderem als es selbst (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 211). An sich unterscheidet das Bewusst- sein als „wahrnehmende Oberfläche“ (Freud 1952j, S. 246) nicht zwischen Gegenständen der inneren und äußeren Wahrnehmung, sodass sein Wahr- nehmungsfeld zu Beginn der Ontogenese zunächst chaotisch, unorganisiert und in sich widersprüchlich ist (vgl. ebd. S. 210f.; Lacan 2016d, S. 183). Es ist dieses Ich, das Lacan „zerstückelter Körper“ (ebd., S. 50, 65, Hervorhebung im Original) nennt, denn alle dem (Wahrnehmungs-)Bewusstsein erscheinen- den Triebregungen fordern gleichzeitig sich widersprechende Befriedigun- gen ein: Das Subjekt „ist am Ursprung zusammenhanglose Ansammlung von Begehren“ (ebd., S. 50), „Organismus, in seiner natürlichen Zerstückelung“ (ebd., S. 191). Die disharmonische Polyphonie seiner Triebe führt diesem Ich seinen Körper gerade nicht als einen zur Einheit gestifteten Organismus, sondern als Feld der ungezügelten Konkurrenz verschiedener Befriedigungs- ansprüche vor, die niemals alle zur selben Zeit gestillt werden können und denen es sich ausgeliefert findet, ohne doch die Macht zu deren Befriedigung bereits selbst in der Hand zu haben (vgl. Lacan 2016c, S. 111–114). In der Di- alektik der Aufklärung ist dieses unorganisierte Bewusstsein insofern impli- ziert, als es den Ausgangspunkt bildet, von dem aus erst historisch sich „das Selbstbewusstsein und das Gewissen“ als Instanzen der „Kontrolle“ (Hork- heimer & Adorno 1989, S. 211) bilden: „Das identische Ich ist das späteste konstante Projektionsprodukt“ (ebd.). Erst als Selbst errichtet die Psyche in sich dasjenige Objekt, auf das sich das (Wahrnehmungs-)Bewusstsein bezieht, wenn es sich auf sich bezieht, und damit die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen diesem „Selbst“ (ebd., S. 213), in dem das Ich als (Wahrnehmungs-)Bewusstsein „seine au- Wie aber ist nun dieses Stadium des Narzissmus zu begreifen, auf das das Ich regrediert, und wie versucht es, den Ansprüchen der väterlichen Autorität durch diese Regression gerecht zu werden? „Es besteht darin, daß das in der Entwicklung begriffene Individuum, welches seine autoerotisch arbeitenden Sexualtriebe zu einer Einheit zusammenfaßt, um ein Liebesobjekt zu gewinnen, zunächst sich selbst, seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt nimmt, ehe es von diesem zur Objektwahl einer fremden Person übergeht.“ (ebd., S. 297) Das Ich versucht, der Reaktualisierung der sexuellen Triebziele seiner sozia- len Triebe dadurch zu begegnen, dass es den betreffenden Objekten ihre libi- dinöse Besetzung entzieht, die es aber weder durch Sublimierung, Verdrän- gung oder Neurosenbildung abführen oder dauerhaft binden kann. Weil die so frei gewordene Libido-Menge sich jedoch auf ein Triebziel richten muss, wenn das Ich sie nicht durch Gegenbesetzung binden kann, besetzt das Ich sich selbst mit ihr. Doch was soll das hier heißen? Was meint Freud damit, dass das Individuum „sich selbst, seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt nimmt“ (ebd.)? Um dies nachvollziehen zu können, müssen im Folgenden vier verschiedene Weisen präzisiert werden, in denen für Freud, Horkheimer & Adorno und Lacan von Ich die Rede sein kann: (Wahrnehmungs-)Bewusst- sein, Selbst, Person und Persönlichkeit. 27 Es kann diese beiden verschiedenen Logiken hier schlechterdings noch nicht voneinander unterscheiden. Diesem Selbst oder, wie Freud es mitunter nennt, diesem „Lust-Ich“ (Freud 1952f., S. 228) ist es noch unmöglich zu bestimmen, ob es Lust oder Unlust empfindet, weil es selbst die Quelle dieser Lust oder Unlust ist, oder weil ein anderes als es selbst sie ihm bereitet. Von hier kommt dem „infantil narzißtischen Vorurteil […], man selber sei gut und was anders ist, minderwertig und schlecht“ (Adorno 2003g, S. 580) seine Kraft zu. Insofern jedoch das (Wahrnehmungs-)Bewusstsein macht, dass Lust ist, und es sich also auf sein Idealich als ein von ihm Verschiedenes orientiert, orien- tiert es sich als zerstückelter Körper zugleich auf sich selbst – und zwar in der Form eines über das Selbst vermittelten Eingriffs in sich.30 Dieser vereinheit- lichende Zugriff auf sich selbst als zerstückelter Körper erfolgt mit dem Ziel, sich dem Bild jener omnipotenten, orgiastischen Ganzheit des Selbst anzu- gleichen, das in Lacans Terminologie der andere ist (vgl. Lacan 2016d, S. 191). Insofern das (Wahrnehmungs-)Bewusstsein als zerstückelter Körper sich vom Selbst im über das Selbst vermittelten Zugriff auf sich unterscheidet, konsti- tuiert es darin eine Vorstellung von sich als einem Ich, das für ein anderes als es selbst, nämlich für das Selbst ist. Insofern ist jedes der Begehren, die das Subjekt als dieses Ich hat, am Maßstab des Selbst als einem anderen, der es nicht ist, modelliert. Darin gewinnt es jedoch zugleich eine erste Vorstellung von sich als einem Subjekt, das in Relation zu anderen steht und sich selbst in Hinblick auf seine Relation zu anderen vorstellen kann: 30 Darum sagt Lacan über das Bild dieses Selbst, dass es „mehr konstituierend ist denn konsti- tuiert“ (vgl. Lacan 2016c, S. 111). toerotisch arbeitenden Sexualtriebe zu einer Einheit zusammenfaßt“ (Freud 1952d, S. 297), und dem, was es nicht ist (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 213; Lacan 2016c, S. 114). Der Prozess der Errichtung des Selbst beginnt, wo das (Wahrnehmungs-)Bewusstsein sein chaotisches und widersprüchli- ches Wahrnehmungsfeld gemäß dem Lustprinzip zu organisieren versucht: Es strebt dahin, alles, was ihm Lust bereitet, zu absorbieren und in sich zu halten, und alles, was ihm als Unlust erscheint, aus sich zu exkommunizie- ren und auf Dauer gestellt von sich fernzuhalten. So organisiert es eine erste Unterscheidung von Innen und Außen entlang der Unterscheidung von Lust und Unlust, bei der alle Unlustempfindungen als Nicht-Wahrgenommenes außerhalb und alle Lustempfindungen als Wahrgenommenes innerhalb des (Wahrnehmungs-)Bewusstseins erscheinen sollen. Wenn das, worauf das Ich als (Wahrnehmungs-)Bewusstsein sich richtet, Lust sein soll, und es also alle Lustquellen in sich einschließt, dann sind diese Lustempfindungen Teil eines aktiven Konstruktionsprozesses dieses Ichs: Ich macht, dass Lust ist. Dieses Ich als Selbst ist also nicht mehr zerstückelter Körper, sondern die vorgestell- te Einheit seiner Lustquellen und -empfindungen in einem imaginierten Kör- perganzen, das dem (Wahrnehmungs-)Bewusstsein als solches aber zugleich selbst als Lustquelle erscheint: das „Idealich“ (Freud 1952e, S. 161; vgl. Lacan 2013, S. 34f.; Lacan 2016c, S. 110f.). Dem Selbst als Anschein der völligen Un- geschiedenheit von Lust und Ich sind darum die beiden folgenden Satzkons- truktionen logisch äquivalent: (Lust = Ich), weil Lust im Ich ist + (Unlust = Nicht-Ich), weil Unlust im Nicht-Ich ist = (Lust = Ich), weil Ich macht, dass Lust ist + (Unlust = Nicht-Ich), weil das Nicht-Ich macht, dass Unlust ist 28 Einheit der Lust geht dem Subjekt verloren – spätestens durch den stören- den Einfluss der es erziehenden Eltern, die als Vaterobjekte die Außenwelt- ansprüche des sozialen Codes repräsentieren und gegen diesen „primären Narzissmus“ (Freud 1952e, S. 154)31 des Kindes geltend machen: Die Fähigkeit des Subjekts, sein Selbst zum Lust-Ich zu gestalten, erfährt eine nachhaltige Verunsicherung, sodass es nun versucht, jene Befriedigung der Selbst-Wer- dung, die es (partiell) aufgeben musste, dadurch zu erreichen, dass es den Ansprüchen seiner Objekte an sein Triebleben gerecht wird.32 Es ist dies also die bereits oben beschriebene Phase der Internalisierung des väterlichen Codes, durch die das Ich in die Welt symbolischer Regeln eingeführt wird und also Person wird (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 211). Als Person ist das Ich immer schon allgemeinen symbolischen Regeln un- terworfen, durch die es sich zu anderen als Personen und zur sozialen Ord- nung insgesamt in Beziehung setzt (vgl. Lacan 2013, S. 35–39). Zwar verliert das Subjekt sein primär-narzisstisches Selbst als sein erstes Objekt und wird zur Aufgabe dieser Phantasie genötigt, doch modifiziert es sie zum von den Objekten gegebenen „Ichideal“ (Freud 1952e, S. 161), dem es sein wirkliches Ich angleichen will, um die niemals einholbare, primär-narzisstische Befrie- digung zurückzugewinnen. Dies ist der Sinn von Lacans Rede über das Wie- derfinden des Objekts im Zuge einer Suche nach ihm. Erst hier – in den stetig iterierenden Schleifen dieser Suche – sind das Ich und das Über-Ich, das das Ich mit dem Ichideal abgleicht, im Sinne der intrapsychischen Topik Freuds Instanzen geworden (vgl. ebd., S. 162). Mit der Zeit reichert das Ich sich durch Internalisierung und Ablösung vom väterlichen Code, durch die Begegnung mit anderen außerhalb der Familie, weiteren gesellschaftlichen Sphären eigenlogisch organisierter symbolischer 31 Zu Freuds Entwicklung dieses Begriffs vgl. Freud 1952e, S. 139–141. 32 Deshalb nennt Lacan das Idealich den „Stamm der sekundären Identifizierungen“ (Lacan 2016c, S. 111) des narzisstischen Ichs. „[…] die erste Synthese des ego ist wesentlich alter ego, sie ist entfrem- det. Das begehrende Subjekt konstituiert sich rund um ein Zentrum, das der andere ist, sofern er ihm seine Einheit gibt, und der erste Zugang, den es zum Objekt hat, ist das Objekt als Objekt des Begehrens eines andern.“ (ebd., S. 50, Hervorhebung im Original) Das (Wahrnehmungs-)Bewusstsein, das sich zum Ganzen des Selbst schlie- ßen will und es nur kann, insofern es eine Vorstellung, ein Bild von sich als Ganzheit hat, die es doch noch nicht ist, ist zu dieser Schließung nie vollstän- dig und insbesondere in der frühen Phase der Ontogenese noch nicht ein- mal besonders zufriedenstellend in der Lage. Das Ich als (Wahrnehmungs-) Bewusstsein erfährt also in der Vermittlungsbewegung über sein Selbst, dass es Unlustquellen in ihm selbst gibt, die es nicht aus sich exkommunizieren kann, genauso wie es Lustquellen außerhalb seiner gibt, die es nicht mit sich verschmelzen kann, und richtet sich auf diese externen Lustquellen als seine Objekte. Hier modifiziert es nun das Lust- zum Realitätsprinzip: „Die erste Erfassung der Realität durch das Subjekt ist das Existenzurteil, das darin besteht, zu sagen – Das ist nicht mein Traum oder meine Halluzi- nation oder meine Vorstellung, sondern ein Objekt. Es handelt sich – es ist Freud, der hier spricht, nicht ich – um eine Prüfung des Außen durch das Innen, um die Konstituierung der Realität des Subjektes in einem Wie- derfinden des Objekts. Das Objekt wird in einer Suche wiedergefunden, und man findet im übrigen niemals das gleiche Objekt.“ (ebd., S. 180, Hervorhebung im Original) Nicht mehr die instantane und vollumfängliche Triebbefriedigung ist ihm hier sein Ziel, sondern die größtmögliche, für die es auch das Ertragen von Unlust in Kauf zu nehmen lernt. Die Fiktion des Selbst-Ichs als rein autopoietische 29 sondern als „Totalität der biographischen Vorgeschichte, der eingestandenen oder uneingestandenen Intentionen der Kranken und schließlich der wahr- genommenen oder nicht wahrgenommenen Motive“ (Lacan 2016b, S. 199; vgl. Kadi 2012, S. 100–102) im Subjekt, weshalb für ihn die Paranoia keine Zerstörung der Persönlichkeit bedeutet, sondern vielmehr eine Form ihres Ausdrucks ist (vgl. Lacan 2002, S. 341–344). Lacans Begriff der Persönlichkeit steht damit dem psychoanalytischen Begriff des Charakters näher, geht aber bereits insofern über ihn hinaus, als er nicht nur das Typische am Individuum erfasst (vgl. ebd., S. 55–59). Im Folgenden wird die Analyse jedoch weiterhin am Begriff der Persönlichkeit als retroaktiver Narration festhalten, insofern sie es ist, die in der Wahnarbeit der Paranoia drastischen Veränderungen und Umarbeitungen unterliegen kann, und Lacans Kritik an einem verkürzten Be- griff von Persönlichkeit vergegenwärtigt bleibt (vgl. Lacan 2016d, S. 143f.).34 34 Lacans Argument gegen mythische Persönlichkeitsbegriffe gleicht hier einem Argument Hegels gegen handlungs- und moraltheoretische Vorstellungen, die bloß die subjektive Absicht zur Beurteilung einer Handlung heranziehen. Für Hegelianer:innen wie für Psycho- analytiker:innen ist der Satz „Das habe ich nicht tun/sagen wollen“ keine Garantie über die reale Absicht des Subjekts in der Situation der Handlung, das ja gerade dies gesagt oder getan hat, sondern bloß eine nachträgliche Erklärung über eine jetzige Absicht, das bereits Getane nicht mehr tun zu wollen. Für beide ist die Wahrheit der Absicht die Tat bzw. der Sprechakt, in dem die subjektive Seite (die Absicht) unauflöslich mit der objektiven Seite (den Folgen) verschränkt ist. Die Unterscheidungen innerhalb des Subjekts dürfen also für Lacan niemals so weit reichen, dass das, was im und durch das Subjekt erscheint, diesem nicht zugerechnet wird (vgl. Hegel 2017, § 140; Hegel bereitet sein dortiges Argument schon in den §§ 119f., 122 und 124 vor). Die Psychoanalyse ist nichts anderes als dies konsequent ernst zu nehmen und adäquat zu erklären. Regeln usw. eine ausdifferenzierte Triebstruktur und innere Objektwelt an, zu der das Ich sein Ichideal gewordenes Selbst in Beziehung setzt. Dieses konkrete Objekt, auf das das (Wahrnehmungs-)Bewusstsein sich nun rich- tet, wenn es sich auf sich als ein sich biographisch entwickelndes, intern ge- schichtetes Netz symbolischer und imaginärer Beziehungen bezieht, wird im Folgenden Persönlichkeit heißen.33 Auf dieses Objekt bezieht sich das Ich in der Form einer retroaktiven Narration, wenn es auf die Frage antwortet, wer es ist. Das Ich als Persönlichkeit ist also nicht mit dem psychoanalytischen Begriff des Charakters oder der Charakterstruktur identisch, die längerfristig stabile, idealtypische Verarbeitungswege, -dispositionen oder Entwicklungs- trends in der Triebstruktur des Subjekts bezeichnen. Vielmehr ist sie der Be- griff, den das Subjekt sich von sich macht. Die Bestimmung der Persönlichkeit als objektförmige, retroaktive Narra- tion des Subjekts umgeht eine Vorstellung von ihr als eine die Psyche synthe- tisierende Einheit oder als ein ungebrochenes, eigentlich Ganzes, die Lacan als „mythisch“ (Lacan 2016d, S. 46) zurückweist. Denn sie unterstelle das Subjekt als einen epistemisch privilegierten, sich selbst völlig bewussten, gar lokalisierbaren Punkt, der qua Introspektion in die um ihn organisierten Teile zu emanieren in der Lage sei, von denen er aber nicht bestimmt sei (vgl. ebd., S. 44–46). Lacan versteht die Psychoanalyse dagegen als Explikationspraxis, die gerade nicht voraussetze, „daß das Subjekt irgendwo ist“ (ebd., S. 44) – und das heißt im Kontext des Zitates: dem Subjekt nicht ein bestimmtes Sprechen oder Verhalten unterstellt, dass das eigentliche Sprechen seiner Persönlichkeit sei, das andere, gestörte oder kranke aber nicht. Lacan selbst versteht die Persönlichkeit allerdings nicht im hier vorgeschlagenen Sinne, 33 Die Unterscheidung des Symbolischen und des Imaginären impliziert bereits die Unter- scheidung des Signifikanten (des Zeichens) vom Signifikat (des Bezeichneten), die jedoch erst ab Kapitel 4.2 „Die Grammatik des Wahns“ explizit thematisch wird. Vorläufig kann das Symbolische als Totalität der Zeichen und ihrer Beziehungen aufgefasst werden, während das Imaginäre die Totalität der Bedeutungen und ihrer Beziehungen meint. 30 Person- und Persönlichkeit-Ichs bei gleichzeitig massiver Bedeutungssteige- rung des Selbst bestimmt wurde (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 215). Es handelt sich um den erneuten Versuch des Ichs, die Innen-Außen-Unterschei- dung entlang der Unterscheidung von Lust und Unlust zu organisieren und so zum Lust-Ich zu werden: Das Ichideal verwandelt sich wieder zurück zum Idealich (vgl. Freud 1952d, S. 309). Für dieses Austreten des Subjekts aus der symbolischen Ordnung in der narzisstischen Regression prägt Lacan in Anlehnung an Freud den Begriff der Verwerfung als ein von der neurotischen Verdrängung qualitativ verschie- dener Ausschlussmechanismus. Diese terminologische Differenz von Ver- drängung und Verwerfung wird hier zunächst bloß gesetzt, um in Kapitel 4.2 „Die Grammatik des Wahns“ begrifflich explizit voneinander abgegrenzt zu werden. Hier bleibt vorerst festzuhalten, dass die Verschiebung der Ich-Or- ganisation, die die Verwerfung ist, sich in einer Lockerung oder sogar völligen Aufhebung der zur Realitätsprüfung nötigen Fähigkeiten des Ichs als Person hinsichtlich des zu verwerfenden Begehrens zeigt. Sie ist folglich der Ver- such, das die Angst verursachende Begehren als Unlust pathisch projizierend aus sich zu exkommunizieren, indem das Subjekt aus der symbolischen Ord- nung austritt: „Die pathische Projektion ist eine verzweifelte Veranstaltung des Ichs […]: unter dem Druck der gestauten homosexuellen Aggression vergißt der seelische Mechanismus seine phylogenetisch späteste Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung und erfährt jene Aggression als den Feind in der Welt, um ihr besser gewachsen zu sein.“36 (Horkheimer & Adorno 1989, S. 216) 36 Horkheimer & Adorno unterscheiden in der Dialektik der Aufklärung nicht verbal explizit, aber doch der Sache nach zwischen der narzisstischen Regression auf der einen und der pathischen Projektion auf der anderen Seite. Sie müssen diese Unterscheidung dort nicht explizieren, weil die narzisstische Regression bereits in der pathischen Projektion erscheint, II. Der Rückzug des Ichs ins Imaginäre Nun lässt sich die Bedeutung der narzisstischen Regression näher bestim- men: Das Ich kann einer Anforderung, die vom väterlichen Code an sein Trieb- leben ergeht, nicht als Person antworten. Dies nämlich ist, was die drohende Resexualisierung der sozialen Triebe und die fehlende Möglichkeit der Kom- pensation der diese bewirkenden Libido-Menge auf den drei Ebenen von al- loplastischer Veränderung, Verdrängung und Neurosenbildung bedeutet. Es antwortet dieser Anforderung vielmehr, indem es den Objekten, denen die Resexualisierung droht, ihre Libido-Besetzung entzieht und sie auf sich als sein Selbst verschiebt. In der narzisstischen Regression tritt das Ich aus den Regeln des symbolischen Tausches aus, die ihm die Teilnahme an der Welt der anderen ermöglichen: Sie wird ihm bedeutungslos und das heißt unverständ- lich und tot (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 211–215, 218–220). Je grö- ßer die zu verschiebende Libido-Menge ist, desto bedeutsamer, wichtiger, potenter und liebenswürdiger erscheint dem Ich dagegen sein Selbst. Diese Verschiebung der Libido aufs Selbst bedeutet so eine Verschiebung der Pri- orisierung des Austragungsfeldes des Begehrens des Subjekts. Dass das Ich in der narzisstischen Regression sein Selbst liebt, heißt also, dass es die Ima- gination seiner selbst als einer Einheit eigentlich disharmonisch-polyphoner Triebe gegenüber seinem wesentlich symbolisch organisierten Person- oder Persönlichkeit-Sein priorisiert; dass es, um den väterlichen Anforderungen an sein Triebleben zu entsprechen, sich von diesem symbolischen Code (partiell) zurückzieht, indem es seine konkrete, entwickelte Beziehung zur Wirklich- keit und seine Beziehung auf die imaginär-symbolische Wirklichkeit der an- deren überhaupt disponibel macht.35 Das Ich versucht, sein tabuiertes, von der Angst vor dem Vater begleitetes Begehren durch autoplastische Arbeit an sich loszuwerden, die somit als das (partielle) Bedeutungsloswerden seines 35 Zur Möglichkeit des bloß partiellen Rückzugs der Libido-Besetzung von bestimmten Objekten und nicht der Außenwelt als ganzer vgl. Freud 1952d, S. 310. 31 inneren Wirklichkeit zum Ziel zu haben scheint. Dieser Widerspruch ist je- doch nur ein scheinbarer, da die Skotomisierung der äußeren Wirklichkeit nur die psychotische Form der Reaktion auf einen Konflikt zwischen dem eigenen Begehren und der angenommenen oder wirklichen Realität ist. Die narzissti- sche Regression ist genau der Versuch der Bewältigung dieses Konflikts, der die innere Repräsentation der Außenwelt dispensiert und das Selbst als Zen- trum und Anker der Welt einsetzt. Das Subjekt wird sein Vernichtungsangst auslösendes Begehren dadurch los, dass es die Wirklichkeit bedeutungslos werden lässt – und sich nicht bloß als Person gegen einen seiner Wünsche in ihr zur Wehr setzt. Mit der Bestimmung der narzisstischen Regression als Einspruch gegen den Satz „Ich liebe x“ sind bereits drei Formen des Wahns konkretisiert, die sich einzig im unterschiedlich akzentuierten Erleben der narzisstischen Re- gression unterscheiden: der nihilistische Wahn, der solipsistische Wahn und der Größenwahn.38 Nimmt der nihilistische Wahn den Untergang der eigenen Persönlichkeit und Person zur Kenntnis und spricht dies als die Überzeugung aus, nicht zu existieren, tot oder unwirklich zu sein, so weiß dagegen der so- lipsistische Wahn um den Verlust der ehemals geliebten Objekte (vgl. Freud 1952d, S. 305–307). Doch weil das sich zum Selbst schließende Ich alle Lust in sich hineinzieht und alle Unlust aus sich herauswirft, erscheint ihm dieser Verlust seiner inneren Welt als einer der äußeren Wirklichkeit – so auch bei Horkheimer & Adorno: „Dem Ich, das im sinnleeren Abgrund seiner selbst versinkt, werden die Gegenstände zu Allegorien des Verderbens, in denen der Sinn seines eigenen Sturzes beschlossen liegt“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 215; vgl. Freud 1952d, S. 308). Im Größenwahn zeigt sich zuletzt die Über- steigerung der libidinösen Besetzung des Ichs als Selbst (vgl. ebd., S. 309; Horkheimer & Adorno 1989, S. 213). Bevor im weiteren Verlauf die Formen 38 Es handelt sich hierbei noch nicht um ein entwickeltes, auf dem Wege der Wahnkonst- ruktion zustande gekommenes Wahnsystem. In der narzisstischen Regression widerspricht das Ich dem Satz „Ich liebe x“ im Einklang mit dem väterlichen Verbot, indem es die Welt wissen lässt, dass es nichts und niemanden; dass es überhaupt nicht liebt – „und dieser Satz scheint psychologisch äquivalent, da man doch mit seiner Liebe irgendwohin muß, mit dem Satze: Ich liebe nur mich“37 (Freud 1952d, S. 301). Die narzis- stische Regression ist hier lediglich das von Horkheimer & Adorno benannte Vergessen der Selbstwahrnehmung, durch das die Projektion als Mechanis- mus wesentlich bestimmt ist; sie legt noch nicht die konkrete Form fest, in der das so Projizierte in der Wirklichkeit erscheint. Es scheint sich hier ein Widerspruch aufgetan zu haben, zwischen der Behauptung des psychotischen Konfliktlösungsversuches als der Skotomi- sierung der äußeren Wirklichkeit und der narzisstischen Regression als dem Versuch des Subjekts, seinem Begehren als der drohenden Resexualisierung seiner sozialen Triebe Herr zu werden, die gerade die Skotomisierung einer die den zentralen Gegenstand ihrer Überlegungen zur Paranoia darstellt. Darüber hinaus taucht die narzisstische Regression in der Dialektik der Aufklärung einmal über ihren Anlass, die Kastrationsangst, und dann erneut im Verlust der Innen-Außen-Unterscheidung auf (vgl. ebd., S. 215f.). An anderer Stelle nutzt Adorno den Begriff des Narzissmus auch verbal explizit, um seine Überlegungen zur wahnhaften Meinung einzuleiten, obwohl er auch dort nicht stringent zwischen primärem und sekundärem Narzissmus, also zwischen dem Idealich und dem Ichideal unterscheidet (vgl. Adorno 2003g, S. 576). 37 Die Weise, in der Freud hier von Liebe spricht, unterscheidet sich von Adornos Liebesbe- griff, weshalb hier auf diese Differenz hingewiesen sei: Liebe heißt hier für Freud nichts anderes als eine libidinöse Objektbesetzung, d. h. ein wie auch immer geartetes libidinöses Triebinteresse des Subjekts am Objekt dieses Triebs. Konkret widerspricht das Subjekt hier desublimierten, resexualisierten Objektbesetzungen, d. h. die tabuierten Triebregungen sind im vollen Sinne des Wortes sexuelle. Liebe in Adornos Sinn gibt es jedoch erst dort, wo diese libidinöse Besetzung den beschränkten Horizont des Eigeninteresses übersteigt und das Subjekt sich dazu fähig macht, Erfahrungen mit dem Objekt als Objekt zu machen. Liebe ist also für Adorno eine spezifische Form libidinösen Interesses, die sich gerade in der Fähigkeit zur Zurückstellung des eigenen Interesses am Objekt eröffnet und es darin erst zur Geltung kommen lässt (vgl. Kap. 4.3.I „Stillgestellte Dialektik“). Ein liebendes Verhältnis können Subjekte für Adorno deshalb nicht nur zu romantischen oder sexuellen Partner:innen einnehmen, sondern zu Menschen und Dingen insgesamt, aber auch zu Ideen oder Vorstellungen (vgl. Adorno 2003h, Aph. 2, 11, 12, 49, 79, 99, 104, 110, 113, 114, 122; Adorno 2003b, S. 191). 32 Regression Verworfenen ist jedoch „Ich liebe x“, das durch den jeweiligen, in- ternalisierten Zensurdruck der betreffenden sozialen Umgebung seine Kon- kretisierung erfährt. Wie diese Verengung der psychoanalytischen Theorie der Paranoia auf zu unterdrückende, ausschließlich homosexuelle Triebregungen die Analyse fehlgehen lassen kann, zeigt sich bereits am Fall Schreber: Der Gedanke, der Schrebers narzisstische Regression veranlasst, ist schließlich keine homose- xuelle, sondern eine heterosexuelle Wunschphantasie – nämlich „daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf un- terliege“ (Schreber 2016, S. 36). Freud legt diesen im Halbschlaf von Schre- ber zunächst als ich-synton erlebten Gedanken als einen entstellt bewusst gewordenen homosexuellen Wunsches Schrebers aus, der letztlich in einer wahnhaften, „unmöglich zu verkennenden homosexuellen Wunschphantasie gipfelt“ (Freud 1952d, S. 296), nämlich in ferner Zukunft „zum Zwecke einer Erneuerung der Menschheit“ (Schreber 2016, S. 235) in das Weib Gottes ver- wandelt zu werden. Diese Auslegung ist aber keineswegs unmöglich zu ver- kennen: Sie beruht vollständig auf den zwei Voraussetzungen, dass Schreber eigentlich ein Mann sei und dass der die Verweiblichung ersehnende Gedanke einem geringeren intrapsychischen Zensurdruck unterliegen müsse als ein homosexueller Trieb, wodurch er leichter bewusst werden könne.40 Dies wird von Freud jedoch nicht weiter begründet, sondern schlicht vorausgesetzt, obwohl es zumindest fraglich sein dürfte, ob der Wunsch Schrebers, Frau zu sein, von einem Subjekt, dessen psychologische Genese und Entwicklung sich im Zeitraum von 1842–1903 vollzog, leichter als ich-syntoner Gedanke anzu- erkennen gewesen wäre als ein resexualisiertes, homosexuelles Begehren.41 40 Auch Lacan weist darauf hin, dass dieser Gedanke ein vorbewusster, „nicht-konflikthafter“ (Lacan 2016d, S. 77) ist, mit dem „Charakter eines verlockenden Gedankens, den das ego keineswegs verkennt“ (ebd., S. 76). 41 Der mögliche Einwand, dass Freuds Begriff homosexueller Triebregungen keineswegs notwendig auf manifeste Homosexualität im alltäglichen Sinne der Wortbedeutung von der wahnhaften Projektion bestimmt werden, gilt es jedoch, eine Abwei- chung dieser Arbeit von der Freud’schen Paranoia-Theorie in der Rekonstruk- tion explizit zu machen und zu begründen. α. Interludium: Paranoia und Homosexualität Die bisherige Rekonstruktion der narzisstischen Regression hat einen zentra- len Aspekt der Freud’schen Theorie über die Genese der Paranoia unerläutert gelassen: Für Freud ist es nämlich das zu sozialen Triebregungen sublimierte homosexuelle Begehren des Subjekts, auf dessen Resexualisierung die nar- zisstische Regression antwortet (vgl. Freud 1952d, S. 295–299). Dementspre- chend erhebt das Subjekt im Freud’schen Original auch nicht gegen den all- gemeineren Satz „Ich liebe x“ Einspruch, sondern gegen die Sätze „Ich [ein Mann] liebe ihn [einen Mann]“ (ebd., S. 299) oder „Ich, eine Frau, liebe sie, eine Frau“ (vgl. ebd., S. 301). Horkheimer & Adorno folgen Freud hier in ihrer Paranoia-Theorie: „Das in Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homo- sexueller Art“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 215). Dennoch erwähnen sie an dieser Stelle noch unmittelbar zuvor, dass die „Substanz“ (ebd.) der paranoi- den pathischen Projektion das gesellschaftlich Tabuierte im Allgemeinen ist. Diese feine Differenz von Horkheimer & Adorno zu Freud wird in der Dialek- tik der Aufklärung nicht weiter begründet, sondern lediglich apodiktisch ge- setzt, sodass es leicht ist, sie zu überlesen. Dies umso mehr, als aus ihr keine systematischen begrifflichen Konsequenzen gezogen werden und das erst- malige „meist“ (ebd.) aus den nachgehenden Erwähnungen homosexueller Triebregungen im Text verschwindet, sodass von ihnen nur noch generisch gesprochen wird.39 Die allgemeinste Formulierung des in der narzisstischen 39 So z. B. hier: „unter dem Druck der gestauten homosexuellen Aggression vergißt der seelische Mechanismus seine phylogenetisch späteste Errungenschaft, die Selbstwahr- nehmung, und erfährt jene Aggression als den Feind in der Welt, um ihr besser gewachsen zu sein“ (ebd., S. 216). 33 Einhegung durch: Innerhalb seiner Fallanalyse existiert kein noch so schma- ler begrifflicher Zwischenraum für nicht-pathologische Transgeschlechtlich- keit.42 Auch wenn die Form der Verarbeitung von Schrebers Verweiblichungs- wunsch zweifellos psychotischer Art ist, so ist er es doch nicht bereits in der Form seines ersten Auftauchens als zunächst ich-syntone Wunschphantasie. Freud selbst merkt an, dass seine Überlegungen über die Genese von Schrebers Psychose aus einem verdrängten homosexuellen Begehren den Charakter von Vermutungen haben, da über Schrebers erste hypochondri- sche Krankheitsphase nichts Substanzielles bekannt sei, schreibt aber später über die Rolle von Flechsig in Schrebers Wahn: „Die Beobachtung läßt kei- nen Zweifel darüber, daß der Verfolger kein anderer ist als der einst Gelieb- te“ (Freud 1952d, S. 300; vgl. ebd., S. 277). Jene anfängliche, einschränkende Vorsicht des psychoanalytischen Urteils über den konkreten Fall, die Freud seiner Theorie über die Genese der Paranoia zunächst auferlegt, verwandelt sich im Laufe des Textes in eine Vorsicht nur noch gegenüber der Generali- sierbarkeit der an diesem Fall gewonnen Ergebnisse für alle Formen der Pa- 42 Zu Freuds sozialkonstruktivistischer Theorie der Geschlechtskonstitution vgl. Benjamin 1994, S. 91–113. Jessica Benjamin verbleibt allerdings innerhalb desselben Biologismus, da das Frausein für sie an einen bestimmten Körper geknüpft ist, selbst wenn eine von diesem abweichende Geschlechtsidentität in der Analyse zutage tritt, wie insbesondere ihre Deutung der Lucy impliziert (vgl. ebd., S. 95–97). Ein Ausgang aus dem Ödipuskonflikt, durch den eine zuvor dem weiblichen oder männlichen Geschlecht sozial zugeordnete Person nicht immer noch eine Frau oder ein Mann ist und bleibt, ist für Benjamin ebenso wie für Freud undenkbar. Lucy ist für Benjamin ebenso klar eine Frau, wie Schreber für Freud ein Mann. Es handelt sich hier um ein in psychoanalytischen Geschlechtertheorien oftmals unreflektiert bleibendes Übertra- gungsgeschehen von Seiten der Analytiker:innen. Mag man es Freuds Analyse Schrebers noch nachsehen, da sie schließlich über ein Jahrzehnt vor Hirschfelds Arbeiten zum „seeli- schen Transsexualismus“ (Hirschfeld 1983, S. 15) erschien, obwohl Transgeschlechtlichkeit als Normvariation schon innerhalb von Freuds Prämissen theoretisierbar gewesen wäre, so ist dies spätestens für Benjamins Arbeiten nicht mehr möglich. Schließlich kehrt sie Freuds Sozialkonstruktivismus dezidiert gegen eine biologistische Lesart hervor. Die verdrängten, cis-biologistischen Grundannahmen psychoanalytischer Geschlechtertheorien kehren jedoch in solchen Fallanalysen wieder, in denen die Analysand:innen deutlicher nicht sagen könnten, dass sie nicht das ihnen zugewiesene Geburtsgeschlecht sind oder sein wollen. Es stimmt mit dieser Auffassung Freuds überhaupt nicht zusammen, dass Schreber durch die Verweiblichung einer homosexuellen Positionierung des eigenen Begehrens gar nicht entkäme, wo Schreber doch weiterhin die Be- ziehung zur Ehefrau aufrechterhielt, nach eigener Auskunft zu keinem Zeit- punkt an eine Scheidung dachte und die Arbeit an den Denkwürdigkeiten sogar ursprünglich aufnahm, um sich ihr mitzuteilen (vgl. Freud 1952d, S. 294 Anm. 2; Schreber 2016, S. 9 Anm. 1). Schreber hätte also – Freuds Paranoia-Theorie gemäß – nach der und durch die Verweiblichung in Bezug auf sie dieselbe Vernichtungsangst spüren müssen wie zuvor hinsichtlich des anfänglich be- handelnden Arztes Prof. Flechsig als dem der Resexualisierung unterliegen- den Objekt, insofern die Verweiblichung in triebökonomischer Abhängigkeit zu einem zu verdrängenden homosexuellen Begehren Schrebers stünde. Die Frage, was das konkrete gesellschaftlich Tabuierte ist, das die Subs- tanz von Schrebers Wahn ausmacht, ist also alles andere als unmittelbar er- sichtlich. Die Möglichkeit, dass Schreber den Gedanken „daß es doch eigent- lich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege“ gar nicht wegen des Sexualziels, sondern wegen der geschlechtlichen Form des Subjekts dieses Begehrens verwerfen könnte, diskutiert Freud gar nicht erst. Denn Freud hält bereits diese Vorstellung Schrebers, Frau nicht nur zu sein oder zu werden, sondern Frau werden zu wollen, für „das fertige Sym- ptom“ (Freud 1952d, S. 277 Anm. 1) von Schrebers Krankheitskomplex und also für an sich wahnhaft: „Wir erfahren [durch diesen Gedanken – Anm. d. A.], daß die Verwandlung in ein Weib (Entmannung) der primäre Wahn war“ (ebd., S. 250). Obwohl Freud eigentlich eine Theorie der wesentlich sozialen und intrapsychischen Konstitution von Geschlechtsidentität vertritt, scheint in diesem Urteil ihre unter der Hand normativ-biologistische, cissexistische Sexualität zielt, ist hier unberechtigt, insofern Freud die narzisstische Regression Schrebers ja gerade als Reaktion auf die resexualisierende Desublimierung der zu sozialen Trieben sublimierten homosexuellen Triebe denkt. 34 erlebt (vgl. ebd., S. 231, 253).44 Viel entscheidender als das Erleben schwuler Sexualität ist Schreber das Erleben weiblicher. Darüber hinaus benennt Freud als weitere Teilmotivation für bereits das erste Auftreten von Schrebers Wunschphantasie die Versagung eines Kinder- wunsches, allerdings handelt es sich bei ihr anfänglich gerade nicht um eine Mutterschaftsphantasie, sondern um den schwelgenden Gedanken, weibli- che Lust, Lust an Sex als Frau zu empfinden. Schrebers Wahn löst nicht das Problem einer sich desublimierenden Homosexualität, sondern das Problem einer nicht weiter unterdrückbaren Geschlechtsidentität, wie Schreber selbst auch geradeheraus sagt: „Ich möchte auch denjenigen Mann sehen, der vor die Wahl gestellt, ent- weder ein blödsinniger Mensch mit männlichem Habitus oder ein geist- reiches Weib zu werden, nicht das Letztere vorziehen würde. So aber und nur so liegt für mich die Frage.“ (Schreber 2016, S. 148, Hervorhebung im Original) Für Schreber ist es gerade das Anerkennen des eigenen Frauseins, das die Bewahrung vor der Blödsinnigkeit bedeutet. Wie Lacan in Bezugnahme auf Ida Macalpines Kritik an Freuds Deutung des Falles bemerkt, lässt sich Schrebers Verweiblichungswunsch auch nicht als späte Akzeptanz der väterlichen Kastrationsangst begreifen: „Der lateini- sche Ausdruck, der im Deutschen benutzt wird, eviratio-Entmannung, meint im Text Verwandlung, mit all dem, was das Wort an Übergang beinhaltet, in ein Weib – das ist keineswegs Kastration“ (Lacan 2016d, S. 368, Hervorhebung im Original). Auch Lacan hält also die Erklärung von Schrebers Wahn durch 44 Schreber ist darum bemüht, diese Lust an der Weiblichkeit als Entschädigung für das Martyrium der Psychose zu rechtfertigen, sie aber nicht als ihr Wesen gelten zu lassen und befindet sich hier also auf einer Ebene der Rationalisierung, insofern Schreber sich merklich gegen einen (voraussichtlich) von anderen erhobenen Vorwurf verteidigt. ranoia (vgl. ebd., 299). In Horkheimer & Adornos Rezeption der Freud’schen Paranoia-Theorie gehen diese Einschränkungen jedoch unter.43 Es zeigt sich hier in der Rezeptionsgeschichte der Freud’schen Paranoia-Theorie dieselbe Vergesslichkeit, wie Lacan sie schon in Hinblick auf Freuds Warnungen vor dem vorschnellen Rückgriff auf den Projektionsbegriff kritisiert (vgl. Lacan 2016d, S. 92; Kapitel 4.3.II. „Existenzurteil und Selbst-Bezogenheit?“). Heute müsste der Fall Schreber weniger als ein Fall verworfener Homose- xualität, denn verworfener Transweiblichkeit ernstgenommen und analysiert werden. Der paranoide Mechanismus der Affektverwandlung bleibt dabei unberührt; allerdings ist es, wie auch Freud richtig bemerkt, die Verweibli- chung, die im Zentrum von Schrebers wahnhaftem Erleben steht; sie ist viel bedeutsamer als der Prof. Flechsig, Gott und der aufgezwungene Sexualver- kehr mit ihnen, die und den sie an Schreber vollziehen und das anderweitige Verfolgungserleben (vgl. Freud 1952d, S. 266). Schrebers Rationalisierung der Verweiblichung als eine von Gott aufgezwungene Tatsache, als zur Erlö- sung der Menschheit notwendiges Widerfahrnis, dem Schreber sich schlicht nicht verweigern könne und das anzuerkennen schlicht vernünftig sei, steht in deutlichem Widerspruch zu bspw. den vielen kleinen Gelegenheiten, in de- nen Schreber sich heimlich aufgehübscht im Spiegel selbst betrachtet und die eigene Weiblichkeit nicht als extern bewirkten Zwang, sondern als Genuss 43 Erstaunlicherweise werden die These der verdrängten Homosexualität und ihre zentrale Bedeutung für die Freud’sche Paranoia-Theorie von zeitgenössischen Theoretiker:innen der pathischen Projektion einfach übergangen. Sie sprechen nur noch von gekränktem Narzissmus, ohne aber die hierfür eigentlich nötige Begründungsarbeit explizit zu leisten. Bei Rolf Pohl bspw., der gegenwärtig als informiertester Interpret der Theorie der pathi- schen Projektion gelten kann, werden homosexuelle Triebregungen als die metapsycho- logischen Anlässe und entstellten Inhalte der Projektion für die Konstitution der Paranoia sowohl bei Freud als auch bei Horkheimer & Adorno vollständig ausgespart – ebenso bei Ingo Elbe und Samuel Salzborn (vgl. Elbe 2020, S. 73–105; Pohl 2006, S. 27–74; Salzborn 2020, S. 107–125). Für Veronika Kracher, die insbesondere Pohl und Theweleit, aber auch Adorno rezipiert, ist vorrangig die paranoide Abwehr von Weiblichkeit als dem Anderen der Männlichkeit von Bedeutung und darin erst die paranoide Abwehr von Homosexualität, die als Gefahr der Verweiblichung erscheint (vgl. Kracher 2020, S. 154–163). 35 4.2 Die Grammatik des Wahns Bevor die besondere Form dieses Widerspruchs innerhalb dieses Kapitels weiter ausgearbeitet wird, gilt es zunächst zu konkretisieren, an welchen Punkten er überhaupt anzusetzen in der Lage ist. Zur Erinnerung: In der narzisstischen Regression bewirkt das tabuierte, von der Vernichtungsangst begleitete Begehren, dass das Selbst gegen den Satz „Ich liebe x“ Einspruch erhebt. Wie Freud allerdings herausarbeitet, gibt es neben der bereits bespro- chenen Möglichkeit der abstrakten Negation der Wirklichkeit als dem Objekt der Liebe des Subjekts und der Verschiebung dieser Liebe auf sein Selbst wei- tere Möglichkeiten dieses Einspruchs, die je für sich konkrete Wahnformen bilden. Der Wahn hat also insofern eine ihm eigene Grammatik, als er sich über verschiedene Formen der Negation von Subjekt, Prädikat oder Objekt des Satzes „Ich liebe x“ konstituiert. Diese drei Formen der Wahnkonstitution werden im Folgenden schlaglichtartig vorgestellt. Widerspricht das Ich dem Subjekt des Satzes, sagt es also „Nicht ich liebe x, y liebt x ja“, so handelt es sich um Eifersuchtswahn (vgl. Freud 1952d, S. 300f.). Die Selbst-Erhaltung erfordert, dass die Unlust bereitende, gegen das väterliche Verbot verstoßende, eigene Liebe als Liebe eines anderen erfah- ren wird. Die Befolgung des Codes wird dadurch bewerkstelligt, dass das Ich sein Selbst-averses Begehren als den Anlass für seine Vernichtungsangst los wird und zugleich seine eigentlich gegen das Verbot sich richtende Aggres- sion gegen einen anderen wendet, dem der Übertretungswunsch oder gar direkt das Übertreten des Codes zum Vorwurf gemacht wird. Widerspricht das Subjekt dagegen dem Prädikat des Satzes, so sagt es „Ich liebe x nicht, ich hasse x“. Aufgrund seiner Lust-Ich-Organisation kann das sich zum Selbst schließende Ich diesen seinen Hass jedoch nicht als sub- jektinterne Unlustquelle identifizieren, sondern ihn nur als ein Eindringen von die Abwehr einer homosexuellen Triebregung gegenüber dem Prof. Flechsig nicht für ausreichend, allerdings weil sie die strukturale Ebene verfehle, auf der die Psychosen im Gegensatz zu den Neurosen angesiedelt sind: „Es muß da doch etwas geben, das ein bißchen mehr den Proportionen des Resultats entspricht, um das es sich handelt“ (ebd., S. 103f.; vgl. ebd., S. 18). Deshalb legt Lacan den Schwerpunkt seiner Analyse von Schrebers Verfolgungswahn mit der Grammatik „ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn, er haßt mich“ (ebd., S. 108, Hervorhebung im Original) auf die Form des „er“ (ebd., S. 108, 121, Her- vorhebung im Original); auf die Rolle des „Namens des Vaters“ (ebd., S. 116). Wie bereits zuvor erwähnt, ist dieser Vater nicht der natürliche, biologische Vater, sondern das, „was sich der Vater nennt“ (ebd.) und dessen Funktion übernimmt, den Eintritt des Subjekts in die Gesetzesförmigkeit der symboli- schen Ordnung zu erwirken und von ihm zu fordern, in ihr zu bestehen.45 Für Lacan ist nicht so sehr die Frage nach dem verworfenen Begehren Schrebers, also nach dem Anlass der Wahnbildung entscheidend, als vielmehr die nach der besonderen Form des psychotischen Widerspruchs. 46 Diese Frage führt dahin zurück, die Betrachtung der narzisstischen Regression wieder aufzu- nehmen. 45 Insofern das Über-Ich das internalisierte Symbolisierungsgesetz im Subjekt ist, nennt Lacan es darum „das Symbol der Symbole“: „Das Über-Ich ist einfach ein Sprechen/Wort (parole), welches nichts sagt“ (Lacan 2013, S. 48, Hervorhebung im Original). 46 Lacan klammert die Frage nach der Ursache des Wahns zunächst zugunsten einer adäquaten Formbeschreibung des Phänomens selbst aus, denn „es ist das große Geheimnis der Psychoanalyse, daß es keine Psychogenese gibt“ (Lacan 2016d, S. 14), insofern die Psychogenese die Zurückführung der Geisteskrankheiten als einem Unverständlichen auf selbstverständliche Umstände ist, aus denen sie sich kohärent und kontinuierlich entwi- ckelt (vgl. ebd., S. 12–14). Hierzu vgl. auch Kadi 2012, S. 100–102. 36 über die symbolische Ordnung vermittelte Ich ein Begehren, ein Signifikat aus ihr ausschließt, das sich als Negation dieser Ordnung innerhalb ihrer selbst als ihr Fehlgehen, ihre Entstellung, Verzerrung oder Übertreibung ar- tikuliert (vgl. Lacan 2016d, S. 185). Als nicht ganz erfolgreich Verdrängtes drängt es in der Neurose auf seine zensierte Symbolisierung und verschafft sich in der Durchkreuzung und dem Stolpern der Intentionen des Subjekts Ausdruck (vgl. Lacan 2013, S. 32). Den Neurotiker:innen ist die Symbolisie- rung dieses Begehrens nur in der Form einer Entstellung möglich, die es entweder nicht als ihr Begehren oder nicht als ihr Begehren bewusstwerden lässt, d. h. indem sie den Existenzwert des Begehrens verneinen.48 Die neuro- tischen Symptome haben also eine über das Imaginäre vermittelte, sich dem bewussten Zugriff des Subjekts entziehende, implizite, aber symbolisierte Bedeutung: Sie sind auf andere Signifikanten verweisende Signifikanten, die einzig deshalb der psychoanalytischen Hermeneutik als einer eigenlogischen Explikations- und Kommentarpraxis zugänglich sind, von der her sich erst ihr Signifikat erschließen lässt, das aber nicht unmittelbar symbolisiert werden kann (vgl. Lacan 2016d, S. 185).49 Denn nicht der einzelne Signifikant verweist auf ein einzelnes Signifikat, sondern beide verweisen nur wiederum auf Signi- fikanten oder aber Signifikate: 48 Wie Freud es prägnant ausdrückt, sprechen die Neurotiker:innen unter öffentlichen Bedin- gungen durchaus von ihren „Klagen und Symptomen, aber auch von nichts anderem“ (Freud 1952h, S. 10). 49 Ebenso der Traum: „Kurz, was nach der Meinung der Autoren eine willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammengebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text“ (Freud 1952a, S. 518). „Freud übersetzend, sagen wir – das Unbewußte ist eine Sprache. Daß es artikuliert ist, impli- ziert deswegen noch nicht, daß es anerkannt ist“ (Lacan 2016d, S. 19). Dies ist überhaupt der Sinn von Freuds Aufsatz über die Verneinung als Darstellung einer Skotomisierung, in der sich ein abgewehrtes Begehren artikuliert, ohne anerkannt zu sein – Freud sagt: „Es resultiert daraus eine Art von intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesent- lichen an der Verdrängung“ (Freud 1952m, S. 12). Für eine Einführung in die Frage, was die analysierbaren Gegenstände der Psychoanalyse auszeichnet vgl. Lacan 2013, S. 24–27. außen erleben. Derart formt sich der Einspruch zum Verfolgungswahn um: „Ich liebe x nicht, ich hasse x, weil y mich hasst“47 (vgl. ebd., S. 299f.). Zuletzt kann das Subjekt dem Objekt widersprechen, also „Ich liebe nicht x, ich liebe ja y“ behaupten. Da diese Liebe jedoch noch immer mit der Ver- nichtungsangst besetzt ist, wird auch sie als Unlustquelle als Äußeres des Selbst erlebt: „Ich liebe nicht x, ich liebe ja y, weil y mich liebt.“ Auf diese Weise konstituiert sich die Erotomanie, der Liebeswahn (vgl. ebd., S. 300). Wie aber ist es überhaupt zu verstehen, dass der Wahn eine Grammatik hat, wenn die narzisstische Regression als der psychotische Konfliktlösungs- versuch zuvor gerade als das Austreten des Subjekts aus der symbolisch vermittelten Ich-Organisation in Person und Persönlichkeit bestimmt wur- de? Wenn der Wahn eine Grammatik hat, die in den konkreten Formen des Widerspruchs gegen den Satz „Ich liebe x“ besteht, so bedeutet dies keines- wegs, dass die Weise dieses Widerspruchs selbst grammatisch ist, schließlich besteht dieser Widerspruch gerade darin, dass das negierte Element oder das Ganze des Satzes in der narzisstischen Regression bedeutungslos wird und seine Beziehung zum Subjekt verliert. Bereits für die Neurose gilt, dass sich in ihr ein vom Person-Ich nicht an- erkanntes Begehren auf verstelltem Wege einen ersatzbefriedigenden Aus- druck verschafft. Sie ist also ein psychoanalysierbares Phänomen, weil das 47 Ist der Fall Schreber, wie oben diskutiert, als Fall der Verwerfung einer weiblichen Geschlechtsidentität zu begreifen, so stellt sich hier die Frage danach, wie Schrebers Wahn von der Verfolgung durch Flechsig und später Gott sich herstellt, wenn doch Flechsig gar nicht das Objekt von Schrebers verworfener Liebe ist. Es handelt sich gemäß der vorge- schlagenen Deutung bei der verworfenen Triebregung nicht um einen homosexuellen libidi- nösen Trieb, sondern um einen narzisstischen. Schrebers Widerspruch lautet demnach: „Ich (m-Schreber) liebe x (w-Schreber) nicht, ich (m-Schreber) hasse x (w-Schreber) ja, weil y (Flechsig) mich hasst.“ Flechsig wird in dieser Umformung notwendig, weil der vormals eigene Wunsch in der narzisstischen Regression als Außen wiederkehrt und es deshalb einen Träger dieses Wunsches braucht. Er wird als personaler Repräsentant der Vater- funktion zu derjenigen Instanz, die das vormals Geliebte als Strafe (und später als eiserne Notwendigkeit der Weltordnung) an Schreber vollzieht. Hier liegt die Erklärung für die Stabilität der zentralen ‚Strafe‘ gegenüber der Variabilität der Strafenden. 37 Das Verworfene erscheint dem Subjekt durch die Regression seines Ichs auf die primär-narzisstische Stufe der Libido-Organisation somit als ein schlechthin „Unaussprechliches“ (Lacan 2016d, S. 42): Dem Selbst erscheint „das Reale, insofern es der Bereich dessen ist, was außerhalb der Symbolisie- rung fortbesteht“ (Lacan 2016a, S. 458). Wie aber kann etwas erscheinen, dem doch, weil es „zutiefst a-symbolisch“ (Lacan 2016d, S. 105) ist, die Bedingung des Erscheinens überhaupt entzogen zu sein scheint? Wenn das zum Realen gewordene Verworfene alles das ist, an dem das Signifikat-Signifikante, d. h. die imaginär-symbolische Wirklichkeit radikal scheitert, weil es nicht einmal benannt werden kann, dann ist die Weise seines Erscheinens in der symboli- schen Ordnung das Erscheinen ihres Scheiterns – aber nicht bloß in der Form ihrer neurotischen Erkrankung, sondern in der Form ihres psychotischen To- des (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 216f.).51 Dieser Tod drückt sich darin aus, dass das Reale die Naht zwischen dem Signifikat-Signifikant durchtrennt, die dem Subjekt in der Neurose nur verschleiert ist (vgl. Lacan 2016d, S. 317). Bereits an Freuds Bestimmung von Neurose und Psychose als dem Ver- such der Kompensation des neurotischen bzw. psychotischen Konfliktlö- sungsversuches zeigt sich, dass das Verhältnis des Subjekts zur symbolischen Ordnung im konkret entwickelten Wahn kaum je das eines vollumfänglichen Austritts aus ihr als eines Ganzen, ihres vollständigen Sterbens ist. 52 Der Si- gnifikant verschwindet nicht einfach aus der Welt des Wahns, er verliert nur sein Signifikat. Innerhalb der Freud’schen Paranoia-Theorie ist der Wahn sogar als ein Versuch zu verstehen, das Bedeutungsloswerden der symbo- 51 Das Reale ist also nicht die Realität, sondern das, was sich ihr uneinholbar entzieht. Das Adjektiv „real“ wird im Folgenden nur noch zur Kennzeichnung des Realen verwendet. Wo es sich dagegen um die Realität im alltagssprachlichen Sinne des Wortes handelt, wird entweder von der imaginär-symbolischen Ordnung, dem Signifikat-Signifikant, der Wirklichkeit oder der Welt die Rede sein. 52 Dieser Fall gilt Freud nicht als das Charakteristikum der Paranoias, sondern der voll entwi- ckelten Schizophrenien, die er lieber unter den Begriff der Paraphrenien fassen will (vgl. Freud 1952d, S. 312–314). „Das System der Sprache, an welchem Punkt sie [sic!] es auch erfassen, führt nie zu einem Zeigefinger, der direkt auf einen Punkt der Realität gerichtet ist, es ist die ganze Realität, die von der Gesamtheit des Netzes der Sprache bedeckt wird.“ (Lacan 2016d, S. 42) Darum aber kann sich, sagt Lacan, in den Lücken dieses Netzes das neuro- tische Symptom als ein „mundtot gemachtes Sprechen“ (Lacan 2013, S. 32) ausdrücken, was zunächst nicht viel mehr heißt, als dass Imaginäres, d. h. ein Signifikat, einen bestimmten Symbolwert annimmt, also als Signifikant fun- giert, den das Subjekt nicht anerkennen kann, und der gegen die Intentionen des Person-Ich in die Verweisungskette der Signifikanten eingreift.50 In der Psychose findet dieser Widerspruch jedoch nicht innerhalb der sym- bolischen Ordnung als Verneinung oder Verdrängung des Existenzwertes eines eigenen Begehrens statt, das sich auf verstelltem Wege Zutritt zu ihr verschafft, sondern als die Verwerfung sogar seines Symbolwertes (vgl. Lacan 2016a, S. 456–459). Freud selbst merkt diesen Unterschied zur neurotischen Projektion an, wenn er über Schrebers Wahn schreibt: „Es war nicht richtig zu sagen, die innerlich unterdrückte Empfindung werde projiziert, wir sehen vielmehr ein, daß das innerlich Aufgehobene von außen wiederkehrt“ (Freud 1952d, S. 308). Aber auch in Bezug auf die halluzinatorische Episode des Wolfsmanns, auf die Lacan sich immer wieder beruft, schreibt Freud davon, dass das psychotische Verwerfen der Kastrationsdrohung bedeute, „daß er von ihr nichts wissen wollte im Sinne der Verdrängung. Damit war eigentlich kein Urteil über ihre Existenz gefällt, aber es war so gut, als ob sie nicht exis- tierte“ (Freud 1952i, S. 117). 50 Daraus, dass Imaginäres einen Symbolwert annimmt, folgt allerdings nicht, dass Signi- fikant und Signifikat doch unmittelbar aufeinander verweisen, denn das Imaginäre, also die Bedeutung, gilt hier nicht als Bedeutung, sondern als Symbol, das wie eine Silbe wieder auf ein anderes Symbol als sich selbst verweist und nicht auf eine Bedeutung. 38 Der Projektionsmechanismus der Paranoia ist für Horkheimer & Adorno grundsätzlich derselbe wie die gesunde oder die neurotische Projektion: Ir- rational wird er ihnen erst durch sein Abwehrmotiv. Denn dass es sich bei der Projektion um eine Abwehrleistung handelt, ist dadurch impliziert, dass sie ihnen als Tätigkeit des Ichs als organisierter psychischer Instanz, d. h. als Tätig- keit des Person-Ichs gilt, das, um sich zu erhalten, aufs Selbst-Ich regrediert.54 Der Widerspruch, den es bedeutet, das Ich zum Zwecke der Ich-Erhaltung aufzugeben, wird von Horkheimer & Adorno zwar ausführlich der Sache nach entwickelt, allerdings schlägt er sich nicht in einer präziseren Terminologie ihrer Begriffe nieder: Nahezu überall sprechen sie lediglich vom „Ich“ (Hork- heimer & Adorno 1989, S. 211–213, 215, 221) und legen so dessen instanzielle Bedeutung nahe. Wie aber soll eine Abwehr von einer Instanz ausgehen und von ihr aufrechterhalten werden können, deren ureigenste Funktionen im Zuge dieser Abwehr partiell oder sogar vollständig abgewickelt werden? Wer ist es, der sich hier in der Abwehr aufgibt? Wenn jede Abwehr vom Person-Ich ausgeht, es sich aber gerade im Zuge dieser Abwehr aufgibt, wie kann es dann noch dazu fähig sein, diese Abwehr nach seinem vollzogenen Untergang auch weiterhin kontinuierlich aufrechtzuerhalten? (vgl. Lacan 2016d, S. 172).55 Diese Frage nach der spezifischen Qualität der psychotisch-wahnhaften Projektion und ihrem Unterschied insbesondere von der bloß neurotischen, die sich ohne Weiteres auf das Person-Ich als den Locus der Abwehr stützen kann, wird weder von Horkheimer & Adorno in der Dialektik der Aufklärung und nur selten von derzeitigen Adorno-Interpret:innen aufgeworfen: Was die Projektion zu einer wahnhaften mache, sei ihre zunehmende Entfernung von Wahrheit und Objektivität, also eine Frage der Quantität und damit des graduellen Übergangs von der normalen Projektion des Objekts über die neurotische hin zur wahnhaften, nicht aber eine wesentlich qualitative Frage 54 Diese Vorstellung der Projektion als Abwehr ruft Adorno auch in seinen soziologischen Schrif- ten immer wieder auf (vgl. Adorno 2003c, S. 136, 232f.; Adorno 1995, S. 52, 60f., 315, 331f.). 55 Zur notwendigen Verknüpfung von Ich und Abwehr bei Freud vgl. A. Freud 1936, S. 50–53. lisch organisierten Wirklichkeit in der narzisstischen Regression so weit als möglich wieder umzukehren: Er ist der Versuch, die den Objekten entzogene Libido-Besetzung – ihr Signifikat – wieder ihren Zielen zuzuführen, ohne die- se Beziehung jedoch wirklich wiederherstellen zu können, weshalb im Wahn ungeheure Signifikate ohne Signifikanten in der Wirklichkeit erscheinen (vgl. ebd., S. 307f.). Diese Signifikate versucht die Wahnkonstruktion als ein Spre- chen zu artikulieren, das über das dem Selbst in der Wirklichkeit wiederkeh- rende, unaussprechliche, verworfene Reale zu sprechen versucht. Wegen die- ser paradoxen Lage nimmt es allerdings eine besondere Form an.53 Warum aber versucht das Subjekt überhaupt davon zu sprechen? Was motiviert die besondere Form der psychotischen Rede, der Lacan anerkennend zugesteht, „daß sie sehr fruchtbar ist hinsichtlich dessen, was sie im Diskurs ausdrücken kann“ (Lacan 2016d, S. 75; vgl. ebd., S. 93)? 4.3 Das Problem der wahnhaften Gewissheit Horkheimer & Adorno diskutieren das Problem der Motivation des wahnhaf- ten Sprechens in der Dialektik der Aufklärung nicht ausführlich, sondern rufen hierfür psychoanalytische Motive auf, für deren Entwicklung sie im Passus zweimal auf Freud verweisen: „Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehen- den, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Re- aktionen auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr.“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 215) 53 Dass das von außen wiederkehrende Verworfene unaussprechlich, symbolisch nicht vermittelbar ist, betont Schreber immer wieder unter Verweis auf die Einzigartigkeit, die Fremdheit und die zigfachen Wiederholungen in der wahnhaften Erfahrungen (vgl. Schreber 2016, S. 5f., 9f., 11 Anm. 2, 15, 17 Anm. 3, 21 Anm. 8, 31, 148). 39 Projizierte, um im Modus der Anklage und der ihm als Selbstschutz erschei- nenden Verfolgung den in der Projektion hergestellten Abstand zwischen sich und dem vormals Eigenen zu festigen: Es spricht zum Zwecke der Rationali- sierung, die oben bereits vorläufig als „Vernunft im Dienste der Unvernunft“ (Adorno 2003g, S. 576) bestimmt wurde, und demnach im Versuch, für seinen Wahn um eine ihn absichernde und rechtfertigende Anerkennung zu werben (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 217–220; Adorno 2003g, S. 576). Da die Selbst-aversen, angstauslösenden Triebe und Affekte durch die Projektion und die Verfolgung des Ersatzobjektes nicht nachhaltig bewältigt werden können, weil das im Außen Wahrgenommene auch weiterhin im Innern des Subjekts verbleibt, muss das wahnhafte Subjekt den Projektionsmechanis- mus auf Dauer stellen können, wenn es nicht nachträglich vom Projizierten überwältigt werden soll: Für Adorno ist er deshalb „wesentlich mit Rationali- sierung verbunden“ (Adorno 2003c, S. 233).57 Die Weise, in der die Unvernunft der paranoiden Urteile erscheint, die als vernünftig ausgewiesen werden sol- len, ist also in der Form ihrer wahnhaften Gewissheit, ihrer Unkorrigierbarkeit (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 217). Was aber soll das hier heißen? Was ist es, das im Wahn gewiss oder unkorrigierbar ist? 57 Diesen Punkt klammert Rolf Pohl in seiner Darstellung der Theorie der pathischen Projektion implizit aus, geht damit aber bereits produktiv über sie hinaus. Pohl interpre- tiert die pathische Projektion als projektive Identifizierung im Klein’schen Sinne, die sich „gravierend von den klassischen psychischen Abwehrmechanismen“ (Pohl 2006, S. 45) unterscheide, weshalb es ihm nicht um Fragen der Rationalisierung des Antisemitismus geht, sondern vielmehr darum, wie der zu projizierende Affekt sein konkretes Objekt findet. Diese Darstellung ist zwar mit Pohls Begriff des Antisemitismus als einer Massen- psychose kohärent, allerdings übergeht sie die damit eine der Spannungen im Verhältnis von Adornos Wahnbegriff zu seiner Bestimmung der Projektion in Schuld und Abwehr, die Pohl zur Definition der pathischen Projektion zustimmend zitiert (vgl. ebd., S. 43f.). (vgl. Adorno 2003c, S. 232f.; Adorno 2003g, S. 578f.; Kirchhoff 2018, S. 88f.; Pohl 2006, S. 60f.).56 Dass der Unterschied zwischen dem Wirklichkeitsverlust und -ersatz in den Neurosen und in den Psychosen keinesfalls als ein bloß gradueller begriffen werden kann, sondern beide immer auch in ihren begriff- lichen Eigenlogiken entwickelt werden müssen, wenn man verstehen will, von wo nach wo überhaupt ein Übergang stattfinden soll, ist bereits in den Kapiteln 2 und 4.1 entwickelt worden: Beide bringen qualitativ unterschied- liche Ausschlussvorgänge und Verarbeitungswege mit sich und finden auf psychologisch strukturell verschiedenen Ebenen statt. Dem Wahn als seiner Form nach psychotisch ist schon allein deshalb in seiner besonderen Qualität Rechnung zu tragen, weil er sich in einem besonderen Maße als für die Psy- choanalyse unzugänglich erweist – so sehr, dass Freud sie bekanntermaßen als Therapieform generell nicht für psychotische Krankheitsbilder geeignet hielt, weil sie sich nicht mehr auf den gesunden Teil des Ichs als Instanz stüt- zen könne (vgl. Freud 1952e, S. 139; Lacan 2016d, S. 156f.). Motiviert sei die vom Ich ausgehende Abwehr im Falle der pathischen Pro- jektion durch die Intensität der vom Über-Ich hervorgerufenen Bestrafungs- angst, die es durch die Verschiebung des Angstanlasses auf ein Ersatzobjekt zu bewältigen versuche. Der so hergestellte Abstand ist jedoch immer pre- kär, insofern eine Korrektur durch die Erfahrung mit dem Objekt droht. Das wahnhafte Subjekt spricht also bei Horkheimer & Adorno über das im Wahn 56 Horkheimer & Adorno unterscheiden zwar die normale von der pathischen Projektion, die gesunde von der krankhaften, aber die für die (Gesellschafts-)Diagnose eines Wahns wichtige Unterscheidung zwischen dem Neurotischen und dem Psychotischen wird von ihnen nie explizit innerhalb der Theorie der pathischen Projektion entwickelt, obwohl sie für die individuelle Verankerung wahnhafter Diskurse in Adornos soziologischen Schriften andeu- tungsweise aufgegriffen wird (vgl. Adorno 2003d, S. 15; Adorno 1995, S. 315, 332). Einzig Pohl arbeitet explizit mit und an dem Begriff der Psychose und verweist dabei auf Ernst Simmels massenpsychologische Arbeiten, die Horkheimer & Adornos Konzeption wohl maßgeblich beeinflusst haben – auch wenn es ihm insbesondere um die Unter- scheidung der individuellen von der kollektiven geht (vgl. Pohl 2006, S. 62–73). Simmels Werk konnte aus Gründen des Umfangs leider nicht in diese Arbeit miteinbezogen werden. 40 der symbolischen Ordnung nach sich zieht. Vielmehr erscheint dieser Tod als ihre Erstarrung: Der Begriff einer Sache wird auf diese Weise gerade gegen die Sache, von der er Begriff ist, als das Moment seiner möglichen epistemo- logischen Entwicklung vollkommen unempfindlich (vgl. Adorno 1995, S. 124). Demnach ist die wahnhafte Gewissheit für Horkheimer & Adorno die Stillstel- lung der Dialektik zwischen Signifikant und Signifikat: „Das wirklich Verrückte liegt erst im Unverrückbaren“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 217). In dieser Stillstellung macht sich das Reale als Reales geltend – nämlich als ein vom Symbolischen und vom Imaginären verschiedenes, aber in sich selbst unfassbares Register, das darum nur ex negativo im Scheitern der an- deren beiden erscheint. Derart verliert der Begriff im Wahn nicht einfach sei- ne konkrete Geschichte, sondern seine Geschichtlichkeit überhaupt als die Möglichkeit der wechselseitig vermittelten Veränderung von Intension und Extension, Logik und Menge, Signifikant und Signifikat (vgl. ebd., S. 217, 221). Somit ist die wahnhafte Gewissheit im Subjekt die vollständige Abwesenheit sogar der Möglichkeit von Nichtidentischem hinsichtlich dessen, worüber es gewiss ist: „Das Pathische am Antisemitismus [als politischem Verfolgungs- wahn – Anm. d. A.] ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin“ (ebd., S. 212). Weil das Subjekt die Wirklichkeit in Hinblick daraufhin organisiert, ob ihre Objekte für es einen Lust- oder Unlust- charakter tragen, verlieren sie in dieser Operation gerade ihren Objektcha- rakter; sie werden darin als völlig verfügbare, auf bloß autoplastischem Wege veränderbare gesetzt (vgl. Adorno 2003g, S. 578f.). Was auf der Seite des Objekts des wahnhaften Urteils als dessen prinzipielle Unkorrigierbarkeit erscheint, zeigt sich auf der Seite des urteilenden Subjekts als die Empfindung einer gegen den Grund überhaupt refraktären Gewissheit: Das narzisstisch regredierte Subjekt hat nunmehr bloß noch eine „lädierte Fähigkeit zur Erfahrung“ (ebd., S. 590). Als unbeschädigte, eigentlich aktive Passivität, als aufnehmendes Verhalten der Erkennenden gegenüber ihrem I. Stillgestellte Dialektik Indem das Subjekt narzisstisch regrediert und in der Verwerfung hinter die symbolische Vermittlung der Organisation seines Begehrens zurücktritt, voll- bringt es eine Negationsoperation: Indem Innen und Außen entlang des Un- terschieds von Lust und Unlust organisiert werden, negiert das zum Selbst sich schließende (Wahrnehmungs-)Bewusstsein die Negativität der ihm als Person-Ich erscheinenden imaginär-symbolischen Wirklichkeit als solche. Als psychotisches tritt das Subjekt noch aus der Möglichkeit der symbolischen Vermittlung von Bedeutung aus, oder wie es bei Lacan heißt: „Eine Forderung der symbolischen Ordnung, weil sie nicht integriert werden kann in das, was schon ins Spiel gebracht worden ist in der dia- lektischen Bewegung, von der das Subjekt gelebt hat, führt eine Zerfalls- kette herbei, ein Abziehen der Schußfäden im Wandteppich, das Wahn heißt.“ (Lacan 2016d, S. 106) Die Negativität der imaginär-symbolischen Ordnung wird also nicht durch bestimmte Negation freigelegt und in der Schwebe gehalten, um die Mög- lichkeit einer anderen auszustellen, wie Adorno es programmatisch für sei- ne Negative Dialektik festhält; sie wird aber auch nicht durch eine zweite bestimmte Negation aufgehoben und so in eine Entwicklung der Intension des Begriffs eingetragen, die sich in der Konfrontation mit der Negativität der extensiven Wirklichkeit als unzureichende erweist (vgl. Adorno 2007, S. 15f.). Vielmehr wird diese Negativität durch die Verwerfung abstrakt negiert, indem diese Wirklichkeit im Wahn selbst abgewickelt wird.58 Es wurde bereits entwickelt, dass diese abstrakte Negation des Verworfenen in der narzissti- schen Regression jedoch nicht unbedingt den vollen Austritt des Subjekts aus 58 Nicht jede abstrakte Negation ist eine Verwerfung, sondern nur die abstrakte Negation der Wirklichkeit als signifikant-signifikativ. 41 79). Erst dann kann es unterscheiden lernen, was an seinem interessierten Bild vom Objekt tatsächlich Objekt und was bloß subjektives Interesse und affektiver Überschuss sind. In der wahnhaften Gewissheit wird die Wirklichkeit für Horkheimer & Adorno somit zweifach personalisiert: Erstens wird der Unterschied von Wesen und Erscheinung eingeebnet, indem dem wahnhaften Subjekt die Erkenntnis des Wesens der Dinge bereits durch das unmittelbare Faktum seines persönlichen Urteils garantiert ist (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 219). Dadurch aber wird die Wirklichkeit dem Begriff nach abgeschafft, die sich wesentlich dadurch bestimmt, dass sie Gegenstand subjektiven Irrtums werden kann (vgl. ebd., S. 217f.; Adorno 2003g, S. 575). Zweitens werden die Objekte darin selbst persönlich, insofern in ihnen eine Bedeutung zutage tritt, deren archimedischer Punkt das wahnhafte Subjekt ist (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 212–215, 219). Es bringt eine Wirklichkeit zum Sprechen, die einzig ihm etwas sagt – und nur in diesem Sinn lässt sich behaupten, dass der Wahn ein Selbstgespräch ist; wenn auch ein fehlschlagendes, das gerade wegen der Exklusion der Negativität der Objekte, wie Lacan sagt, nicht „die geringste reale Verständigung anzeigt“ (Lacan 2016d, S. 93). Was also klas- sischerweise als Beziehungswahn bezeichnet wird – als das sachwidrige Er- scheinen Selbst-bezüglicher Bedeutungen in der Wirklichkeit – ist Ausdruck der gesamten primär-narzisstischen Regressionsbewegung des wahnhaften Subjekts, in der die Wirklichkeit ihren Objektcharakter einbüßt und das Sig- nifikat des verworfenen Signifikanten im Wahn als ein dem Selbst gegebenes Zeichen, als eine Selbst-bezogene, reale, ungeheure Bedeutung erscheint (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 215). Für Horkheimer & Adorno erscheint die autoplastische Verfügbarkeit der Wirklichkeit also einerseits in der Ent- kopplung von Existenzurteilen von der Möglichkeit ihrer Korrektur durch die Erfahrung mit den konkreten Objekten, über die geurteilt wird, d. h. durch die Zurichtung des Begriffs zum Stereotyp, in der der affektive Grund dieses Objekt bestünde die Erfahrung darin, ihr Objekt nicht nur als das Besondere eines abstrakten Allgemeinen wahrzunehmen, mit welchem es nahtlos-iden- tisch zusammenfällt, sondern seine konkrete Einzigartigkeit zu Bewusstsein kommen zu lassen (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 211f.; Adorno 1995, S. 121f.). Weil das Selbst-werdende Ich in der narzisstischen Regression sei- nen Objekten die libidinöse Besetzung entzogen hat, geht dem (Wahrneh- mungs-)Bewusstsein jedoch das Vermögen ab, hinsichtlich des Verworfenen Erfahrungen in einem solchen emphatischen Sinn zu machen. Darum gilt Adorno das Vorurteil als präpsychotische Form lädierter Erfahrungsfähigkeit: „Stereotypie läßt sich durch Erfahrung nicht ‚korrigieren‘; erst muß die Fähigkeit restituiert werden, Erfahrungen zu machen, um das Gedeihen von Vorstellungen zu verhindern, die im buchstäblichen, klinischen Sinn bösartig sind.“ (ebd., S. 122, Hervorhebung im Original; vgl. ebd., S. 143) 59 Die narzisstische Regression als Rückzug der libidinösen Besetzungen er- scheint dabei notwendig in solcher Stereotypie, denn wie bereits im Kapitel zur Ich-Schwäche deutlich wurde, ist die libidinöse Besetzung von Objekten die Bedingung der Möglichkeit des autonomen Urteils über sie. Darum ist Horkheimer & Adorno auch nicht „das projektive Verhalten als solches“ Ge- genstand der Kritik, insofern damit in allgemeinster Weise die Übertragung subjektiver Regungen auf ein Objekt gemeint ist, sondern „der Ausfall der Reflexion darin“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 212). Nur weil das Subjekt ein Triebinteresse an seinen Objekten hat, muss es sie ihrer Eigenlogik ge- mäß begreifen, sofern es sein Interesse an ihnen befriedigen können will: Nur dann kann es ein Interesse an ihnen als Objekten entwickeln und sich, sie erfahrend, an sie ausliefern (vgl. Adorno 2003g, S. 578; Adorno 2003h, Aph. 59 Lacan ist sich in diesem Punkt mit Horkheimer & Adorno völlig einig, wenn er den Wahn als „Stillstehen in der Dialektik“ (Lacan 2016d, S. 31) charakterisiert. 42 Lacan zieht hier eine Unterscheidung ein, die Horkheimer & Adorno nicht treffen, die allerdings für ihre Theorie sozialpathologischen Wahns zunächst nicht weiter von Bedeutung ist. Die wahnhafte Gewissheit um die Bedeutung des Verworfenen kann, muss sich aber nicht auf Existenzurteile erstrecken, mit denen das Subjekt dem Wiederkehrenden den ontologischen Status ei- nes wirklich Existierenden zuspricht: Was es ist, das sich das Subjekt von der Wirklichkeit sagen lässt, von jenen Phänomenen, die „es persönlich meinen“, ist für Lacan grundsätzlich semantisch offen; entscheidend ist hier, „dass der Wahnsinn ganz im Register des Sinns erlebt wird“ (Lacan 2016b, S. 193; vgl. Lacan 2016d, S. 179f.). Diese Unterscheidung ist insofern von Interesse, als sie die Frage nach der Ansprechbarkeit des einzelnen wahnhaften Subjektes berührt. Die Gewiss- heit über den Status des psychotisch Projizierten als eine in der Wirklichkeit nicht bloß erscheinende Bedeutung, die diese infrage stellt, sondern als ein wirklich Existierendes fällt erst in sozialpathologischen Formen des Wahns notwendig zusammen, da der Wahn hier in die Spannung gesellschaftlicher Anerkennungsverhältnisse eintritt.61 Auch wahnhafte Subjekte nehmen nur dann an einem gemeinsamen Diskurs teil, wenn sie dessen Gegenstände prinzipiell für anerkennbar halten. Dies schließt also die Anerkennung abso- lut privater wahnhafter Gewissheiten aus, die nicht für wirklich existierend gehalten werden (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 209f., 219). Es wäre selbst für wahnhafte Subjekte schlicht und ergreifend sinnlos, an einer dis- kursiven, sozialen Vermittlung von Wahn teilzunehmen, hielten sie die Ge- genstände dieses wahnhaften Diskurses nicht für anerkennbar.62 61 Adorno macht auf diesen Unterschied aufmerksam, wenn er sagt, die Unfähigkeit zur Erfahrung sei „keineswegs nur bei Menschen anzutreffen, die tatsächlich ‚spinnen‘ (eher ist der ganze Judenkomplex eine Art anerkannte Freizone legitimierter psychotischer Verzer- rungen)“ (vgl. Adorno 1995, 122). 62 Auch hier ist Schreber ein interessanter Fall, da Schreber immer wieder gerade im Namen unzähliger, alltäglicher Erfahrungen behauptet, dass die Inhalte des Wahns anerkennbar seien, auch wenn Schreber sich explizit keine bis geringe Hoffnungen Urteils durchschlägt; andererseits erhält die Wirklichkeit als das eigentlich anonym Existierende einen Index der Selbst-Bezogenheit, da das, was in der Wirklichkeit und als gewiss erscheint, nicht diese ist, sondern der eigentlich eigene psychische Inhalt: das reale Verworfene (vgl. ebd., S. 213; Adorno 2003g, S. 578, 590; Adorno 2003c, S. 273). II. Existenzurteil und Selbst-Bezogenheit? Für Lacan steht die Sache anders: Die psychotische Erfahrung liegt ihm nicht wesentlich in der Unkorrigierbarkeit von Existenzurteilen begründet, son- dern einzig in der absoluten Gewissheit der Selbst-Bezogenheit des wieder- kehrenden Verworfenen: „Die Realität ist nicht das, was in Frage steht. Das Subjekt gesteht über alle verbal entwickelten, explikativen Umwege, die ihm zur Verfügung stehen, zu, daß diese Phänomene [die Halluzinationen – Anm. d. A.] ei- ner anderen Ordnung angehören als dem Realen, es weiß sehr wohl, daß ihre Realität nicht gesichert ist, es gesteht sogar bis zu einem gewissen Grad das Irreale an ihnen zu. Aber im Gegensatz zum normalen Subjekt, dem die Realität auf dem Teller serviert wird, hat es eine Gewißheit, näm- lich, daß das, worum es sich handelt – von der Halluzination bis zur In- terpretation – es betrifft. Nicht um Realität geht es ihm, sondern um Ge- wißheit. Selbst wenn es sagt, daß das, was es erlebt, nicht der Ordnung der Realität angehört, rührt das nicht an seine Gewißheit, daß es betrof- fen ist. Diese Gewißheit ist radikal. Das Naturell selbst dessen, worüber es gewiß ist, kann sehr gut vollkommen mehrdeutig bleiben, innerhalb der ganzen Skala, die von Böswilligkeit bis zum Wohlwollen geht. Aber das bedeutet etwas Unerschütterliches für es.“60 (Lacan 2016d, S. 90f.) 60 Die Verwendung der Worte „dem Realen“ im Zitat meint nicht das Reale als Register, sondern – wie aus dem Gesamtkontext der Stelle hervorgeht – den Begriff der Realität bzw. der Wirklichkeit. 43 wesentlich in seinen autoritären Anteilen zu suchen, die eine paranoide Ver- arbeitung erfahren (vgl. Lacan 2002, S. 342). Darüber hinaus hat die Ablösung des Kriteriums des Existenzurteils wei- tere Implikationen für die Frage nach der Rolle der Rationalisierung: Der von Adorno hergestellte Zusammenhang zwischen Wahn und Projektion (je phantastischer, desto projektiver) besteht für Lacan gerade nicht in dieser Form, denn für ihn lässt sich von Projektion als einem neurotischen Abwehr- mechanismus nur dann sprechen, wenn ein Ich einem anderen Ich sein eige- nes Begehren oder seine eigenen Taten anlastet. Das heißt, dass die Projek- tion hier „die Beziehung von Ich zu Ich, oder vom Ich zum anderen“ (Lacan 2016d, S. 92) reguliert, um eine psychische, innere Realität zu skotomisieren, wie Lacan am Beispiel der projektiven Eifersucht erläutert: „Es erübrigt sich, Ihnen ausführlich zu schildern, was die dem normalen Typus entsprechende Eifersucht Humoristisches, sogar Komisches an sich hat, von der man sagen kann, daß sie sich auf die allernatürlichste Weise der Gewißheit verweigert, welches auch immer die Realitäten sein mögen, welche sich dafür anbieten. […] Sie steht hinreichend in Kontrast zu der Tatsache, daß der Wahnsinnige auf jegliche reale Referenz ver- zichtet. Das müßte ein gewisses Mißtrauen bei Ihnen erwecken, wenn man normale Mechanismen, wie zum Beispiel die Projektion, überträgt, um die Genese einer wahnhaften Eifersucht zu erklären.“ (ebd.) Der Verzicht auf die Rationalisierung ist für Lacan also das Anzeichen dafür, dass sich im Wahn gerade nicht mehr von „Projektion im eigentlich psych- iatrischen Sinne“ (Adorno 2003c, S. 233) sprechen lässt, weil das Projizierte keinem imaginierten Ich innerhalb einer schon konstituierten, symbolisch strukturierten Wirklichkeit angelastet wird. Es handelt sich für Lacan nur noch so lange um Projektion, wie das Subjekt noch die Mühe auf sich nimmt, Die relative soziale Normalisierung von Wahninhalten im sozialpatho- logischen Wahn bedeutet demnach, dass jene, die sie teilen, zumindest im Kreis seiner Anhängerschaft nicht als manifest wahnhaft gelten wollen und lässt damit auf einen Normalisierungswunsch dieser wahnhaften Subjekte schließen: „Die Mitglieder haben Angst davor, ihren Wahnsinn allein zu glau- ben“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 220). Insofern spricht aus dem sozialen Anpassungsgrad der Wahninhalte lediglich der Grad des Konformismus des Subjekts, während das für die Beurteilung des psychotischen Charakters aus- schlaggebende Indiz das Maß des Verzichts auf die Rationalisierung dieser Inhalte ist: „Der Projektionsmechanismus ist wesentlich mit Rationalisierung ver- bunden, und es fällt angesichts der Virtuosität des Rationalisierens [der Versuchsteilnehmer:innen in der postnazistischen BRD – Anm. d. A.] oft überaus schwer, eine Grenze zu ziehen zwischen dem zweckmäßigen Versuch, durch Aufmachung eines Schuldkontos für den Partner sich selbst zu entlasten, und der unbewußten und zwangshaften Übertra- gung eigener Neigungen und Triebtendenzen auf andere, denen man daraus Vorwürfe macht. Von Projektion im eigentlich psychiatrischen Sinne darf wohl nur dort die Rede sein, wo gegen andere erhobene Vor- würfe deutliche Züge der wahnhaften Phantasie tragen.“ (Adorno 2003c, S. 233, Hervorhebung d. A.) Folgte man Lacans Unterscheidung, so wäre die entscheidende Komponente des Aggressionsniveaus und der Verfolgungsbereitschaft eines paranoiden Charaktertyps wie des „‚Spinner[s]‘“ (Adorno 1995, S. 331) aus den Studi- en nicht so seiner psychotischen Charakterstruktur zuzurechnen, sondern darauf macht, dass sie gesellschaftlich auch faktisch anerkannt werden (vgl. Schreber 2016, S. 8, 9, 15f., 24, 26, 31, 148, 209f., 215, 221, 223–226, 228f., 242f.). 44 Hier also unterscheidet sich Lacans Wahntheorie von der Wiederkehr des Verworfenen von Horkheimer & Adornos Theorie der pathischen Projektion. Die Verwerfung stellt gerade keinen Abwehrvorgang des Ichs als Person dar, gegen dessen Aufhebung es sich auf dem Weg der Widerstände zur Wehr setzt und den es durch Rationalisierungen absichert. In der Tat ist bei Hork- heimer & Adorno selbst nicht expliziert, warum ein pathisch projizierendes, paranoides Subjekt überhaupt die Mühe der Rationalisierung auf sich neh- men sollte, wenn die Stereotypie seines Urteils doch bereits von sich aus garantiert, dass es keine korrigierenden Erfahrungen mehr mit dem Objekt seines Urteils machen kann. Wenn es bereits das Wesen der wahnhaften Ge- wissheit ist, keinen Zweifel über das gefällte Existenzurteil zuzulassen, wozu dann noch rationalisieren? Die Projektion kann, wenn sie eine paranoide ist, gar nicht wesentlich mit der Rationalisierung verbunden sein, sondern ist nur sinnvoll als ein Werben um Anerkennung bei anderen denkbar. Wo psychoanalytische Theorien des Wahns ihn auf seinen imaginär-nar- zisstischen, eben projektiven Charakter reduzieren und nur entlang eines neurotischen Begriffs von Abwehr analysieren, so verpassen sie nach Lacan also die weit wesentlichere Frage nach seiner noch immer symbolisch struk- turierten und damit potentiell uneindeutigen Bedeutung: „Die Mechanismen, die bei der Psychose im Spiel sind, beschränken sich nicht auf das imaginäre Register. […] Es ist nichts zu erwarten von der Zugangsweise zur Psychose auf der Ebene des Imaginären, denn der imaginäre Mechanismus ist das, was der psychotischen Entfremdung ihre Form, nicht aber ihre Dynamik verleiht.“ (Lacan 2016d, S. 174f.) Wenn die psychotische Projektion den Einbruch eines Nicht-Symbolisierten, eines Realen in die Wirklichkeit meint, von dem zunächst nur absolut gewiss ist, dass es dem Subjekt irgendetwas Selbst-Bezogenes bedeutet, dann steht den projizierten Inhalt in einer Form zu rechtfertigen, die für andere aner- kennbar ist und Unsicherheiten in der Gewissheit über die Selbst-Bezogen- heit der wahnhaften Bedeutung zulässt. Im Wahn schmuggelt das Subjekt jedoch nicht einem anderen signifikanten Subjekt eine Imago unter, die es für wirklich hält, weil die Verwerfung gerade „eine Vernichtung des Signifi- kanten“ (Lacan 2016d, S. 243) ist. Weil aber „der Signifikant niemals allein da- steht, […] führt der Mangel eines Signifikanten das Subjekt notwendigerwei- se dazu, die Gesamtheit des Signifikanten wieder in Frage zu stellen“ (ebd., S. 240). Die symbolische Ordnung als solche steht in der Psychose auf dem Spiel und genau deshalb betrifft die sie zerteilende Bedeutung nicht einfach irgendein anderes Ich, sondern die anonyme Welt der Menschen insgesamt. Die autoritären ‚Spinner‘ bestimmen diese reale Bedeutung als eine feindse- lige, die vernichtet werden muss, um den Zerfall ihrer symbolischen Ordnung zu stoppen und finden erst sekundär personalisierte Feindobjekte, die ihnen als Agent:innen dieses Zerfalls erscheinen. Zwar wirbt bspw. auch Schreber in dem Bemühen um die Veröffentli- chung der Grundzüge des eigenen Wahnsystems um Anerkennung (vgl. ebd., S. 94). Doch diese Form der Ausarbeitung wäre mit Lacan insofern gerade nicht als Rationalisierung einer Projektion zu begreifen, als Schreber den ei- genen Wahn mit ihr nicht primär rechtfertigt, sondern Zeugnis von ihm ablegt als etwas, das Schreber zweifellos betrifft: Die Denkwürdigkeiten sind kein Traktat, sondern ein Bericht; „eine wenigstens einigermaßen verständliche Darlegung“ (Schreber 2016, S. 9) von Schrebers wahnhafter Erfahrung (vgl. Lacan 2016d, S. 49–52). So mag es zwar durch die noch bestehenden Teile des symbolisch organisierten Ich in der Psychose zu Rationalisierungen in- nerhalb des Wahnsystems kommen, aber die Rationalisierung ist nicht der- jenige Mechanismus, über den sich der Wahn zum Wahnsystem entwickelt (vgl. Lacan 2002, S. 341f.). 45 Die Ansprache sozialpathologisch wahnhafter Subjekte müsste aber der besonderen Struktur des wahnhaften Sprechens gerecht werden, das über eine verworfene, vom Subjekt nicht symbolisierte Bedeutung spricht. Zur Verwerfung als der (psycho-)logischen Form des narzisstisch regredierenden Libido-Entzugs und der psychotischen Projektion, durch die das Verworfene dem Selbst-Subjekt von außen als wahnhaft gewisse, Selbst-bezogene, un- geheuer bedeutsame Bedeutung wiederkehrt, tritt nun die Wahnkonstrukti- on als das dritte Moment des Wahns in den Fokus der Betrachtung. der paranoide Interpretationsstil dieser Bedeutung womöglich auch dann ei- ner Bearbeitung offen, wenn das Subjekt in die „Isolierung“ (Adorno 1995, S. 331, Hervorhebung im Original) der Psychose flüchten musste. Dies setzte voraus, dass man es verstünde, auf die richtige Weise in das zum Scheitern verurteilte Selbstgespräch seines Wahns einzugreifen (vgl. Lacan 2016d, S. 96f., 365–372). Mit Lacan müsste also nicht nur zwischen isoliertem und kol- lektiviertem Wahn, sondern innerhalb des isolierten Wahns noch zwischen selbstgenügsamem und geltungsdrängendem Wahn unterschieden werden, wobei der geltungsdrängende Wahn faktisch sozial isoliert oder – in Abstu- fungsgraden – sozial anerkannt sein kann. Die Möglichkeit der Transformati- on von sozialpathologisch-wahnhaften Subjekten in selbstgenügsam-wahn- hafte lässt sich mit Lacans Überlegungen zu den Psychosen herausstellen, wo dieser Gedanke bei Horkheimer & Adorno höchstens angedeutet ist. Gegenüber Lacans Betonung der Möglichkeit der Ambivalenz des Realen betonen sie aufgrund der von ihnen zugrunde gelegten Abwehrfunktion der Paranoia die Starrheit der Bedeutung selbst, die höchstens noch in der kon- kreten Objektwahl Steuerung zulässt: „Dem gewöhnlichen Paranoiker steht dessen Wahl [die des Objektes der Feindseligkeit – Anm. d. A.] nicht frei, sie gehorcht den Gesetzen seiner Krankheit. Im Faschismus wird dies Verhalten von Politik ergriffen“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 209).63 63 Bei Freud meint die Paranoia nicht bloß den Verfolgungswahn, wie an der dortigen Stelle angedeutet zu werden scheint, sondern jede Form des Wahns. Horkheimer & Adorno lassen diese Frage im Text selbst offen. Sie konzentrieren sich zwar begrifflich auf den Verfol- gungswahn, aber greifen im Text immer wieder auch auf andere Wahnformen zurück. Auch an anderer Stelle deutet Adorno diesen Gedanken an, wenn er z. B. über die ‚Spinner‘ schreibt: „Für sie ist das Vorurteil lebenswichtig; es ist ihr Mittel, akuter Geisteskrankheit durch Kollektivierung zu entgehen“ (Adorno 1995, S. 332, Hervorhebung d. A.). Die Organi- sation des eigenen Wahns unter dem Gesichtspunkt der sozial anerkannteren Ideologie des Vorurteils und die in ihr erscheinende, autoritär strukturierte Angst vor der eigenen Differenz treten mit Lacan ungleich deutlicher als das Kernproblem der ‚Spinner‘ hervor. Wer keine Angst haben müsste, als wahnhaft zu gelten, wäre nicht notwendig auf die Form eines geltungsdrängenden Wahns festgelegt. 46 dialektischen Veränderung Entzogene auch weiterhin von jeder Negativität unberührt bleibt und folglich dasjenige, mit dem es in Kontakt kommt, mit diesem Stillstand ansteckt. Es kommen somit der Form nach zwei verschie- dene Modi der Wahnkonstruktion in Betracht, die zwei Pole desselben Pro- zesses bilden: 1. Die Ausbreitung des dialektischen Stillstands des Stereotyps auf die noch bestehende symbolisch vermittelte, innere Objektwelt und die mit ihm einhergehende Unempfindlichkeit gegen Korrekturen durch die Negativi- tät der Wirklichkeit, die Horkheimer & Adorno „Schematisierung“ (1989, S. 216; vgl. ebd., S. 213, 215f.) heißen. 2. Das Einströmen weiteren psychotisch projizierten Materials in das Reale, das ebenfalls von der Stillstellung der Dialektik der Symbolisierung er- fasst wurde, und das im Folgenden in Anlehnung an Charakterisierungen Adornos und Lacans „Wucherung“ (Lacan 2016d, S. 105; vgl. ebd., S. 302; Adorno 2003g, S. 579) genannt wird (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 215–218). Auch wenn Horkheimer & Adorno den Begriff der Wucherung im betreffen- den Abschnitt der Dialektik der Aufklärung nicht unmittelbar gebrauchen, so greift Adorno doch in The Stars Down to Earth auf die Metapher einer bösar- tig wuchernden Krebserkrankung zurück, um die Form der Irrationalität tota- litärer Massenbewegungen zu charakterisieren. Diese bösartige Wucherung des Unvernünftigen ist Adorno dort nicht einfach ein der Vernunft Entgegen- gesetztes, sondern die Wendung der Vernunft gegen sich selbst, ihre imma- nente Durchkreuzung, „Vernunft im Dienst der Unvernunft“ (Adorno 2003g, S. 576) oder: Rationalisierung. Die konkrete Form der Irrationalität dieser Massenbewegungen bestimmen Horkheimer & Adorno in ihrer Rezension der Studies genauer, welche sie dort Untersuchungen der „sozialpsycholo- 5. Wahnkonstruktion: Wucherung und Schematisierung Auch für Horkheimer & Adorno erscheint die im Wahn vollzogene Negation der Negativität der Wirklichkeit in der Form verschiedener Deformationen von signifikantem Sinn oder Modifikationen des Imaginär-Symbolischen. Da die pathische Projektion sich von der normalen in ihrer Abgeschlossenheit gegen die Negativität der Wirklichkeit unterscheidet, die sich im Wahn zur kategorischen steigert, kommen für die Prinzipien der Wahnkonstruktion nur bestimmte Formen von Statik und Dynamik in Betracht. Dabei wird im Fol- genden der Versuch unternommen, im Sinne von Lacans Kritik auf einen vor- schnell eingreifenden Begriff von Rationalisierung zu verzichten, der bloß die möglichst rationale Absicherung eines falschen Existenzurteils meint. Das Subjekt versucht vielmehr, die notwendig widersprüchliche und ungeheure Leistung zu vollbringen, von einer nicht symbolisierten Bedeutung – etwas seinem vernünftigen Zugriff prinzipiell Entzogenes – innerhalb der symboli- schen Ordnung zu sprechen: Es versucht darin, etwas in die geteilte Welt der Subjekte zu integrieren, ohne es wirklich zu können.64 Statik erhält dieser Prozess der Wahnkonstruktion, weil er sich um eine psychotisch projizierte Bedeutung herum organisiert, die dem eigenen Selbst, weil sie nicht symbolisiert werden kann, als „ich-fremd“ (Adorno 1995, S. 51) erscheinen muss. Wie im vorigen Kapitel erläutert wurde, erscheint sie anderen – da sie ihnen als Imaginäres nicht unmittelbar zugänglich ist – auf der Ebene des Symbolischen in der Form der Stillstellung der Dialektik des Symbols, die es zum absoluten Stereotyp fixiert. Alle Dynamik, jede Verän- derung innerhalb des Wahns kann also nur so gedacht werden, dass das aller 64 Wie gut ihm dies gelingt und wie sehr es dabei auf in Gesellschaft zirkulierende, norma- lisierte, wahnhafte Diskurse zurückgreifen kann, bestimmt den Anpassungsgrad seines Wahns. Zum Zusammenhang der Begriffe der symbolischen Ordnung und der Welt im Werk Lacans vgl. Bernet 2012, S. 107–135. 47 che Verhältnisse miteinander eingehen, die sich im verschiedenen Charakter der ihnen jeweils zugehörigen Formen von „Elementarphänomen“ (Lacan 2016d, S. 22, 27) und Wahnsystem unterscheiden. Den Begriff des Elementarphänomens klärt Lacan im Psychosen-Semi- nar nie ausführlich, doch aus den wenigen Stellen, an denen er den Begriff verwendet oder ihn anschneidet, wird zweierlei deutlich: Erstens meint der Begriff in einem weiteren psychiatrischen Diskurs bestimmte Formen der wahnhaften Erfahrung, wie die Halluzination, den Wahneinfall, das Ritornell u. a., die insofern elementar sind, als sie der den Wahn systematisierenden Wahnarbeit zeitlich und logisch vorangehen und also das nicht weiter auf anderes Material reduzierbare Material der Wahnkonstruktion bilden; zwei- tens grenzt Lacan sich mit seinem eigenen Begriff des Elementarphänomens jedoch von genau dieser Auffassung ab, insofern sie den Elementarphäno- menen die Konstruktion des Wahnsystems als prinzipiell vernunftgeleiteten Prozess beiseitestellt. Der Konstruktionsprozess vom Elementarphänomen hin zum geschlossenen Wahnsystem ist Lacan gemäß nämlich nicht einfach so zu verstehen, dass die Verwerfung dem Subjekt ein falsches Urteil einge- be, aus dem heraus es seinen Wahn logisch deduziere, oder dass der Wahn in dem Sinne Rationalisierung sei, dass sich ein unbeschädigter, der dialek- tischen Vermittlung zugänglicher, symbolischer Diskurs schützend um ein in die symbolische Ordnung gestanztes Loch herumlegte (vgl. ebd., S. 27): „[E]s ist immer die gleiche strukturierende Kraft, wenn man sich so aus- drücken kann, die im Wahn am Werk ist, ob man ihn nun auf einen seiner Teile oder auf sein Ganzes hin betrachtet. […] Der Wahn ist nicht dedu- ziert, er reproduziert dieselbe Aufbaukraft, er ist, auch er, ein Elementar- phänomen.“ (ebd., S. 27f.) gischen Voraussetzungen des modernen totalitären Wahns“ (Horkheimer & Adorno 2003, S. 361) nennen. 65 Aber auch in seinem Vortrag Meinung Wahn Gesellschaft charakterisiert Adorno das „Nicht-Aufhören-Können, das pathi- sche Projektion heißen darf“ mit unmittelbarem Verweis auf die Dialektik der Aufklärung als „Wucherung des Meinens“ (Adorno 2003g, S. 579). Diese Form der Wucherung findet sich dort in Horkheimer & Adornos Charakterisierung der Paranoia als „willkürliche Besetzung der Außenwelt mit Sinn“ (Horkhei- mer & Adorno 1989, S. 219) wieder, die in letzter Konsequenz in der völligen Schließung des Wahnsystems durch den Paranoiker mündet: „Seine Syste- me sind lückenlos“ (ebd., S. 213). Das, was wuchert, ist das in der Wirklichkeit erscheinende, rein Imaginäre, das psychotisch-pathisch Projizierte, das das Stereotyp oder das Schema ist: Das, was wuchert, ist der dialektische Still- stand (vgl. Adorno 2003g, S. 578f.). Die dynamische Dimension, die in der vormaligen Charakterisierung der Wucherung als einem Einströmen von psy- chotisch projiziertem Material angezeigt ist, erscheint anderen gerade in der Stillstellung des Symbols zum stereotypen Schema: Die Wucherung ist die imaginäre Seite der symbolischen Schematisierung. Horkheimer & Adorno kennen jedoch verschiedene Weisen, in denen das Schema als dialektischer Stillstand wuchern kann, die im Folgenden entfaltet werden sollen. 5.1 Die Anspielung: Subjekt-Objekt-Relationen Dieses Kapitel wird zwei idealtypische Modi des wahnhaften Sprechens he- rausarbeiten, die den Akzent der Wahnkonstruktion entweder auf die Seite der Wucherung oder die Seite der Schematisierung legen – auch wenn beide Momente in jeder Wahnkonstruktion vorkommen und also nur unterschiedli- 65 Gleichwohl insistiert Adorno in The Stars Down to Earth darauf, dass es ihm nicht um eine psychologisierende Erklärung dieser Massenbewegungen gehe und dass für deren Analyse weder der Begriff der Vernunft noch der Begriff des Wahns allein hinreichend seien (vgl. Adorno 2003d, S. 15). 48 besonderes, eben psychotisches Sprechen, das besondere Formen annimmt: „Ohne das würde es das Problem mit der Psychose nicht geben. Die Psycho- tiker wären Sprechmaschinen“ (ebd., S. 52). Die Ansteckung des wahnhaften Sprechens mit dem dialektischen Stillstand ist also nicht derart zu verstehen, dass immer neue symbolische Bezüge vom Subjekt verworfen und als Ele- mentarphänomene psychotisch wuchernd projiziert werden. Dies kann in der Psychose zweifelsohne geschehen, doch bestimmt sich dadurch nicht das Charakteristikum der Strukturmerkmale des wahnhaften Diskurses. Wie aber spricht nun ein Person-Ich von etwas, über das es nicht sprechen kann, weil es aus dessen sich zum Selbst schließenden (Wahrnehmungs-)Bewusst- sein exkommuniziert wurde und darum im Realen erscheint? Und was ist es, wovon es spricht? Ein Sprechen von etwas, über das man nicht sprechen kann oder will, nennt Lacan treffend „Anspielung“ (ebd., S. 64) und bezeichnet mit ihr den allgemeinen Modus aller Formen wahnhaften Sprechens.66 In nicht-psychoti- schen Formen der Anspielung ist dasjenige, auf das angespielt wird, eine sym- bolisierbare Bedeutung, die auf weitere Bedeutungen als sich selbst verweist und also Element eines symbolisch strukturierten „Metabolismus der Bilder“ (Lacan 2013, S. 21) ist, für den Freud das Wort Libido geprägt hat (vgl. ebd.). Die Anspielung versucht, imaginär-symbolische Topoi aufzurufen, ohne eine explizite Kette aufeinander verweisender Signifikanten zu knüpfen.67 Ihre sprachliche Form konstituiert sich durch den Abbruch einer Signifikantenket- 66 Begrifflich explizit wird diese Anspielungsstruktur in Sitzung IV eingeführt und taucht dem Sinn nach immer wieder auf, bspw. in den Sitzungen IX, XII oder XXI (vgl. Lacan 2016d, S. 64, 147, 193, 304). Lacan unterscheidet innerhalb von Schrebers Wahn noch weitere Formen wahnhafter Sprachphänomene neben dem Wahneinfall und dem Ritornell, die allesamt Grenzfälle des Symbolischen überhaupt darstellen: Das Brüllwunder, das Hilferufen, die Zersplitterung von Bedeutung und der Ruf der Tiere (vgl. ebd., S. 155–170). 67 Dieses Übereinanderlegen von Signifikanten und Signifikat ist jedoch keine Repräsenta- tionsbeziehung. Signifikanten verweisen auf nichts anderes als auf weitere Signifikanten und erst in ihrer Gesamtheit als Sprache bedeuten sie (vgl. Lacan 2016d, S. 308–314, 317f.). Dieser Hinweis Lacans macht eine der Grundbewegungen auch von Horkhei- mer & Adornos Theorie der Paranoia explizit, die eine schärfere Abgrenzung von neurotischen Fällen der Projektion erlaubt, in denen tatsächlich noch nennenswerte Rationalisierungsversuche stattfinden: Die Schematisierung, in der die imaginäre Wucherung als Versuch der Artikulation des psychotisch Projizierten, als Versuch der Thematisierung des Nicht-Symbolisierten inner- halb symbolisch organisierter Anerkennungsbeziehungen erscheint, führt nicht zu einem tatsächlich rationaleren, besser begründeten, wahnhaften Gesamtgebilde. Dieser Versuch kann prinzipiell keinen Erfolg zeitigen, eben weil das zu Thematisierende infolge der narzisstischen Regression selbst nicht symbolisiert ist und deshalb auch nicht in eine tatsächliche Anerken- nungsbeziehung eintreten kann, die die symbolisch vermittelte Rationalität in der Sphäre des Person- und Persönlichkeit-Ichs wäre: Das psychotisch Pro- jizierte ist als solches nicht anerkennbar, solange es verworfen und damit real bleibt (vgl. ebd., S. 106). Zwar kann das vollständig geschlossene Wahnsys- tem unter Umständen den Anschein einer rationaleren Durchbildung machen als der isolierte Wahneinfall, aber auch nicht mehr (vgl. ebd., S. 156f.). Jeder Artikulationsversuch im Wahn ist also von der Form des Psychotischen, vom dialektischen Stillstand selbst angesteckt. Nun ist zwar die Bedeutung, die dem Subjekt im Wahn in der Wirklich- keit erscheint, nicht symbolisiert, da sie verworfen und also unaussprechlich ist, allerdings ist das zum Stereotyp erstarrte Symbol noch immer ein Sym- bol und nicht einfach reine Sprachlosigkeit: „Die Mechanismen, die bei der Psychose im Spiel sind, beschränken sich nicht auf das imaginäre Register“ (ebd., S. 174). Dies ist „das Zeichen, daß innerhalb dieser imaginären Welt die Forderung des Signifikanten fortbesteht“ (ebd., S. 105). In der psychotischen Projektion wird zwar durch die Verwerfung die Negativität der Wirklichkeit abstrakt negiert, doch ist der Diskurs des Subjekts über das psychotisch Pro- jizierte weiterhin ein Sprechen über und von etwas – wenngleich auch ein 49 men nun entwickelt werden können, da der allgemeine Begriff der Anspie- lung zur Verfügung steht.68 Allerdings können – allein schon aus Gründen des Umfangs – nicht alle Formen dieser „Fransenphänomene, bei denen die Gesamtheit des Signifikanten ins Spiel gebracht wird“ (Lacan 2016d, S. 243), entwickelt werden. Diese Arbeit beschränkt sich unter allen psychotischen Elementarphänomenen, die auf die Bedeutung als Bedeutung verweisen, auf die „zwei Pole, an denen diese Eigenschaft bis zu ihrem Gipfelpunkt gebracht wird“ (ebd., S. 42): den Wahneinfall und das „Ritornell“ (ebd., S. 43). In der Dialektik der Aufklärung tauchen diese beiden Formen als zwei Seiten derselben epistemologischen Medaille der Paranoia auf, die immer gemein- sam entwickelt werden. Im Text selbst sind sie sprachlich so eng miteinander verflochten, dass ihre aufgetrennte Behandlung einen etwas künstlichen, formalistischen Charakter hat. Sie auseinanderzuziehen, nebeneinander- zustellen und aus Lacans Begriff des Elementarphänomens zu entwickeln, erlaubt es jedoch, ihre jeweils spezifische Logik der Trennung des Symboli- schen vom Imaginären hervorzukehren, die für Horkheimer & Adorno in je- dem Schritt der begrifflichen Entwicklung ihrer fatalen Dialektik maßgeblich ist, die aus ihrem Mangel an jeglicher Dialektik entsteht. Diese Dialektik des dialektischen Stillstands erscheint in Abschnitt 6 und 7 der Elemente des An- tisemitismus in zwei Formen des Wirklichkeitsbezugs, zwei verschiedenen Subjekt-Objekt-Relationen, die sich bis zum voll entwickelten Wahnsystem ausspreizen. 68 Diese Abtrennung ist jedoch „nicht total“, wie Christian Kupke unter Verweis auf Lacans Ausdeutung der Halluzination des Wolfsmanns über seinen abgeschnittenen Finger erläutert, denn entscheidend sei, „dass der Finger immer noch an der Haut hängt“ (Kupke 2012, S. 111 Anm. 6). te, die als abgebrochene in der Weise ihrer immanenten Verknüpfung auf ein unausgedrücktes, nicht-symbolisiertes Signifikat verweist. Weil jedoch die psychotische Verwerfung nicht nur das Abbrechen einer konkreten Signifikantenkette, sondern einen Bruch mit der symbolischen Ordnung als solcher bedeutet, so hat die Bedeutung, auf die in der psychoti- schen Anspielung symbolisch verwiesen wird, nicht die für Signifikant und Sig- nifikat charakteristische Verweisungsstruktur (vgl. ebd., S. 66). Das psychoti- sche Sprechen sagt ein in seiner Dialektik stillgestelltes, stereotypes Symbol, das nicht selbst auf andere Symbole als sich selbst verweist, aber doch als Symbol auf irgendetwas verweisen muss (vgl. Lacan 2013, S. 24–27). Wenn es nicht auf andere Symbole verweist, dann verweist es einzig auf sich selbst: Es bedeutet unmittelbar. Die Auftrennung der Naht des Imaginär-Symbolischen durch das Reale zeigt sich also durch unüberbrückbare Schnitte in der sym- bolischen Verweisungskette. Wenn aber das Symbol derart selbstreferenziell wird, so kann auch die durch es bedeutete Bedeutung nicht wiederum auf an- dere Bedeutungen als sich selbst verweisen; so ist also auch diese selbstrefe- renziell (vgl. Lacan 2016d, S. 104). Da es allerdings keine konkrete Bedeutung gibt, die nicht auf andere Bedeutung als sich selbst verweist, ist die einzige, auf sich selbst verweisende, selbstreferenzielle Bedeutung die Bedeutung als Totalität des Verweisungszusammenhangs: die Bedeutung als Bedeutung (vgl. ebd., S. 42f., 68). Diese ist folglich als der Gegenstand des psychotischen Diskurses bestimmt, auf den er anspielt. Die psychotische Abtrennung des Signifikanten von seiner symbolischen Verweisungsstruktur bleibt dabei nicht ohne Konsequenzen für ihn selbst: Er „erfährt tiefgreifende Umbildungen“ (ebd., S. 105), deren konkrete For- Mit dem Begriff des Stepppunktes führt Lacan jedoch den Begriff einer Klasse besonderer Signifikanten ein, von denen her das Signifikat einer abgeschlossenen Signifikanten- kette sich überhaupt erst erschließen lässt (vgl. ebd., S. 316f.). Dass ein Stepppunkt eine Verknüpfung zwischen der Gesamtheit der Signifikanten und einem Signifikat herzustellen vermag, heißt jedoch nicht, dass sie die Form einer Repräsentation hat. 50 Wenn das Subjekt nun damit beginnt, um das ihm im Wahneinfall erschei- nende, bedeutungsschwangere Wort ein Wahnsystem zu errichten, so meint dieser Prozess eine Praxis des notwendig fehlschlagenden Versuchs der Deu- tung des dialektisch Stillgestellten im Modus der Anspielung. Der noch nicht narzisstisch regredierte Anteil des Subjekts versucht, dieser im singulären Si- gnifikanten inkorporierten, immensen Bedeutung als Person-Ich Rechnung zu tragen und beginnt damit, die eigene Persönlichkeit als Objekt und die innere Objektwelt insgesamt in Entsprechung mit den Anforderungen der wahnhaften Erfahrung zu modifizieren. Weil das im Wahneinfall wiederkeh- rende Reale auf die Bedeutung als Bedeutung verweist, impliziert die Deu- tungsarbeit des Person-Ichs am Wahneinfall, dass sich das psychotische Sub- jekt darin immer auch zur imaginär-symbolisch strukturierten Wirklichkeit als ganzer ins Verhältnis setzt.70 Weil aber das psychotisch Projizierte als Verwor- fenes nicht symbolisiert werden kann, ist die Deutungsarbeit des Person-Ichs das immer und immer wieder auf den nicht-symbolisierten Signifikanten an- spielende Kreisen um ihn, sodass „diese Anspielung für sich allein überhaupt keine Fähigkeit besitzt, eine Lösung zu bewirken“ (ebd., S. 193): „Wenn es Erfahrungen durch die Sprache, führt sie aber zugleich immer wieder als unerschütterliches Beweismittel über die anerkennbare Existenz der Widerfahrnisse an und fordert deren wissenschaftliche Anerkennung und Untersuchung ein (vgl. Schreber 2016, S. 3, 7f., 9f., 44f., 216f., 223 Anm. 1, 224–229). 70 Wenn Verschwörungsmythen als paranoid strukturierte politische Narrative begriffen werden müssen, dann ist die in ihnen häufig anzutreffende Rhetorik der Anspielung nicht allein als ein Versuch zu verstehen, ein Ungesagtes in sozialen Umgebungen zu artikulieren, in denen man das eigene Gedankengut nicht anerkannt glaubt und sich die Möglichkeit des Rückzugs immer offenhalten will (vgl. Horkheimer & Adorno 1989, S. 208; 212–215; Salzborn 2019, S. 192–211). Vielmehr ist sie für deren narrative Struktur konstitutiv: Das in der Anspielung Ungesagte ist nicht einfach nur ungesagt, sondern es ist unsagbar. Weil der wahnhafte Kern dialektischer Trägheit prinzipiell nicht symbolisiert werden kann, kann er anderen nur als ein Bild, eine Kette von Bildern oder eben ein „imaginäres Gewimmel“ (Lacan 2016d, S. 105) übermittelt werden, von dem die Anderen sich anstecken lassen müssen, wenn auch sie in den Kreis derer eintreten sollen, die verstehen (vgl. hierzu insbe- sondere Lacans fruchtbare Fallanalyse einer psychotischen Anspielung in ebd., S. 59–69). 5.2 Wahneinfall: Idealismus Wo die Wirklichkeit schlagartig eine aufs Selbst bezogene Bedeutung an- nimmt, die auf die Bedeutung als Bedeutung verweist und über deren Selbst-Bezogenheit das Subjekt sich wahnhaft intuitiv gewiss ist, so hat es einen Wahneinfall. Die Einzigartigkeit des Einfallenden, seine singuläre, be- deutungsschwangere Schwere, artikuliert das Subjekt durch Signifikanten, die als solche, als konkrete Symbole Träger einer ungeheuren libidinösen oder aggressiven Besetzung geworden sind. Bei diesem Elementarphäno- men liegt der Akzent des Wahnhaften deutlich auf der Seite der Wucherung. Oben bestimmte sich die Form der Bedeutung, auf die das Subjekt anspielt, so, dass das Reale im wuchernden Imaginären die Möglichkeit der Dialek- tik des Symbols stillstellt, die in seinem Verweisungscharakter auf andere Symbole begründet liegt. Darum erscheint der dialektische Stillstand in der völligen Unempfindlichkeit des wahnhaften Signifikanten gegenüber seiner Vermittlung durch andere Symbole und deren Bedeutung. Hier nun nimmt dieses allgemeine Charakteristikum des Wahnhaften jedoch die besondere Form an, dass die Bedeutung des Wahneinfalls wegen der auf den Signifikan- ten fixierten Fülle an Bedeutung nicht artikuliert werden kann: „Die wahnhafte Intuition ist ein volles Phänomen, das für das Subjekt et- was Erfüllendes, etwas Überschwemmendes an sich hat. Sie offenbart ihm eine neue Perspektive, deren eigenständiges Gepräge, deren beson- deren Reiz es unterstreicht […]. Hier ist das Wort | le mot – mit seiner vol- len Emphase, wie man sagt le mot de l’énigme | des Rätsels Lösung – der Kern der Situation.“69 (ebd., Hervorhebung im Original) 69 Im Falle Schrebers wird dies besonders an den Wörtern der Grundsprache deutlich (vgl. Schreber 2016, S. 18 Anm. 5, 19, 21, 23 Anm. 10, 26, 44f., 48, 53; Lacan 2016d, S. 43). Aber auch an anderer Stelle erläutert Schreber die Nichtvermittelbarkeit der gemachten 51 grundiert: „Grenzenlos belehnt es [das Subjekt – Anm. d. A.] die Außenwelt mit dem, was in ihm ist; aber womit es sie belehnt, ist das vollkommen Nich- tige“ (ebd.).71 Das Nichtige, nämlich das der durch das Symbol vermittelten Erfahrung entzogene Imaginäre ist im idealistischen Wahn gleichzeitig ‚hin- ter‘ und ‚in‘ der Wirklichkeit: Die Dinge gelten als rätselhafte, unergründli- che Chiffren und bedeuten zugleich ganz offensichtlich und gewiss einen Selbst-bezogenen Sinn: „Das zwangshaft projizierende Selbst kann nichts projizieren als das ei- gene Unglück, von dessen ihm selbst einwohnenden Grund es doch in seiner Reflexionslosigkeit abgeschlossen ist. Daher sind die Produkte der falschen Projektion, die stereotypen Schemata des Gedankens und der Realität, solche des Unheils. Dem Ich, das im sinnleeren Abgrund seiner selbst versinkt, werden die Gegenstände zu Allegorien des Verderbens, in denen der Sinn seines eigenen Sturzes beschlossen liegt.“ (Horkhei- mer & Adorno 1989, S. 215) Das Wort ‚Hinter-Grund‘ bezeichnet also einen immer gleichzeitig zu denken- den Doppelaspekt: Zum einen meint es eine an den Idealismus angelehnte Wesenslogik, die mit dem Topos vom ‚Grund hinter den Dingen‘ die Bedeu- tung einer bestimmten symbolischen Strukturierung aufruft, die im Wahn gleichwohl immer unterbrochen ist, während der Hintergrund als Grundie- 71 Die Metapher des bildlich-imaginären Hintergrunds benutzt auch Schreber, um jene Umgebung zu beschreiben, die einzig als Bühnenbild für das Drama des Wahns dient, ohne welches es aber gänzlich sinnlos würde. Auffallend ist der Mangel an Anonymität bei gleichzeitigem Anspielen auf den unaussprechbar überwältigenden Charakter dieser Welt: „Auf der anderen Seite kommt der ungeheure Hintergrund des Gemäldes in Betracht, in dessen Vordergrund meine Person und meine persönlichen Schicksale stehen“ (Schreber 2016, S. 239). Vgl. auch Lacan 2016d, S. 307. [das Ich – Anm. d. A.], idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 212). Horkheimer & Adorno nennen den bedeutungsvoll wuchernden Konst- ruktionsprozess des Wahnsystems deshalb „idealistisch“ (ebd.), weil die Deu- tungsarbeit des Paranoikers sich an den in die Wirklichkeit hineinwuchernden Gegenständen der subjektiven Phantasie vollzieht, die sich von der Negati- vität des Objekts dieser Phantasie nicht verunsichern lassen kann: „Ihm wer- den alle Worte zum Wahnsystem, zum Versuch, durch Geist zu besetzen, woran seine Erfahrung nicht heranreicht, gewalttätig der Welt Sinn zu ge- ben“ (ebd., S. 219). Nicht die idealistische Systemkonstruktion als solche gilt Horkheimer & Adorno hier also als wahnhaft, sondern ihre Bindung an ein zur symbolischen Vermittlung unfähiges „imaginäres Gewimmel“ (Lacan 2016d, S. 105; vgl. ebd., S. 31), das darum der auf die Bedeutung reflektierenden Er- fahrung verschlossen ist und in „sturer Wiederholung“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 212) befangen bleibt. In der Wahnarbeit spült dieses auch in die noch bestehende symbolische Ordnung im Person- und Persönlichkeit-Ich ein und erfasst am logischen Endpunkt seiner Konstruktion jede Wirklichkeitsbezie- hung des Subjekts, bis die Wirklichkeit insgesamt zum Nexus schlechthin un- aussprechlicher Imaginationen geworden ist, auf die es nur als Hinter-Gründe seines artikulierten Diskurses anspielen kann und auf die es auch de facto un- ablässlich anspielt. Der Neologismus ‚Hinter-Grund‘ soll hier die Gleichzeitigkeit einer Poly- semie hervorkehren, die ohne den im Wortspiel hinzugefügten Bindestrich unterginge: Einerseits verweist es auf den erklärenden Charakter des Wahn- systems, das stets auf eine tiefere, aber eben nicht symbolisierbare Bedeu- tung anspielt, die darum immer im Dunkeln bleibt und als eigentliches Wesen der Dinge gilt, andererseits soll es den Umweltcharakter des Imaginären für das symbolisch strukturierte Wahnsystem anzeigen, das es gewissermaßen 52 Kapitel 3.2.II.b „‚Der ‚Spinner‘“). Horkheimer & Adornos Unterscheidung zwi- schen dem Paranoiker als „vollendet Wahnsinniger oder absolut Rationaler“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 215, Hervorhebung d. A.) deutet dabei be- reits den zweiten Pol des wahnhaften Diskurses an, der im Folgenden zum Gegenstand der Betrachtung wird. 5.3 Ritornell: Positivismus Wo dem Subjekt in der Welt eine endlos repetitive, bloße Formel erscheint, die auf die Bedeutung als Bedeutung verweist, und über deren Selbst-Bezo- genheit das Subjekt sich wahnhaft gewiss ist, so ist diese Formel ein Ritor- nell. Das Signifikat des einfallenden Signifikanten entzieht sich dem Subjekt hier wegen seiner Nichtigkeit, dessen bedeutungsloser Unsinn sich mit den ewig gleichbleibenden, nichtssagenden Worten artikuliert. Bei diesem Ele- mentarphänomen liegt der Akzent des Wahnhaften deutlich auf der Seite der Schematisierung. Der Signifikant ist hier zwar ebenso rigide und erstarrt wie im Wahneinfall, aber er verweist gerade nicht aufgrund seiner schlicht unarti- kulierbaren Bedeutungsschwere auf die Bedeutung als Bedeutung, sondern wegen seiner völligen Entleerung von jeglicher Bedeutung: „Die Phänomene, um die es sich bei der verbalen Halluzination handelt, […] werden allmählich immer unsinniger, wie sich Schreber ausdrückt, sinnentleert, rein verbal, Eintrichterungen, Ritornelle ohne Objekt.“73 (Lacan 2016d, S. 192) 73 Beispiele für Ritornelle liefert Schreber viele, es seien die „dürftigen, immer wiederkeh- renden Phrasen“ (Schreber 2016, S. 250). Dort lässt sich auch eine kleine Auflistung von ihnen finden (vgl. ebd., Anm. 3). rung auf seine bildhafte, imaginäre und im Wahn unsagbare Bedeutung ver- weist, in die die Signifikanten und letztlich die gesamte Wirklichkeit im idea- listisch strukturierten Wahn eingetaucht sind: „Es ist, als hätte die Schlange, die den ersten Menschen sagte: ihr werdet sein wie Gott, im Paranoiker ihr Versprechen eingelöst. Keines Lebendi- gen scheint er zu bedürfen und fordert doch, dass alle ihm dienen sollen. Sein Wille durchdringt das All, nichts darf der Beziehung zu ihm entbeh- ren. Seine Systeme sind lückenlos. Als Astrologe stattet er die Sterne mit Kräften aus, die das Verderben des Sorglosen herbeiführen, sei es im vorklinischen Stadium des fremden, sei es im klinischen des eigenen Ichs. Als Philosoph macht er die Weltgeschichte zur Vollstreckerin unaus- weichlicher Katastrophen und Untergänge. Als vollendet Wahnsinniger oder absolut Rationaler vernichtet er den Gezeichneten durch individu- ellen Terrorakt oder durch die wohlüberlegte Strategie der Ausrottung.“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 215) Das Verhältnis des wahnhaften Subjekts zur Bedeutung als Bedeutung ver- liert so seinen konstitutiv anonymen Charakter: Sie wird sektiererisch und esoterisch, d. h. Selbst-bezogen.72 Dieser Charakter wird nicht durch das faktische Ausmaß der sozialen Anerkennung der wahnhaften Bedeutung be- stimmt, auch wenn er mitunter von ihm affiziert werden kann, sondern durch seine imaginär-narzisstische Organisation. In Adornos Typologie von Syndro- men der Ich-Schwäche ist der bereits besprochene Typus des ‚Spinners‘ das charakteranalytische, vorklinische Stadium eines idealistischen Wahns (vgl. 72 Das ist hier die entscheidende Komponente: Adorno definiert in den Studien den Begriff des Charakters in überraschend ähnlicher Weise; dieser „liegt hinter dem Verhalten und im Individuum“ (Adorno 1995, 6). Allerdings ist das, was hinter dem Besonderen und im Allgemeinen ist, ein verbal explizierbarer, begründbarer und kritisierbarer Zusammenhang theoretischer Begriffe und keine sich unendlich entziehende, Selbst-bezogene Bedeutung. 53 als absolut Grund-los, als schleierlose, achtlos brachliegende Nichtigkeit. Horkheimer & Adorno nennen den bedeutungsleer schematisierenden Kon- struktionsprozess des Wahnsystems also deshalb „positivistisch“ (ebd.), weil in ihm der Signifikant von seinem Signifikat als der subjektiven Bedingung der Möglichkeit jeder Erkenntnis bereinigt wird, so wie Adorno zufolge dem Positivismus das Subjekt nicht die Bedingung der Möglichkeit der Reflexion auf Subjektivität und Objektivität in der Bedeutung ist, sondern als zu elimi- nierendes Hindernis eines jeden objektiven Erkenntnisprozesses erscheint: „Der Positivismus, dem Widersprüche anathema sind, hat seinen inners- ten und seiner selbst unbewußten Kern daran, daß er der Gesinnung nach äußerster, von allen subjektiven Projektionen gereinigter Objek- tivität anhängt, dabei jedoch nur desto mehr in der Partikularität bloß subjektiver instrumenteller Vernunft sich verfängt.“ (Adorno 1962, S. 12) In dieser Lesart Horkheimer & Adornos ist das Ritornell als das völlig sinnlose, zum bloßen Ausdruck schematisierte Wort der radikale Endpunkt des positi- vistischen Verhaltens zum Objekt. Darum gilt ihnen das Subjekt an diesem Pol der paranoiden Subjekt-Objekt-Relation als „absolut Rationaler“ (Hork- heimer & Adorno 1989, S. 213), insofern Rationalität hier den positivistischen Erkenntnisimperativ der vollständigen Eliminierung des Subjekts und seines Interesses an der Welt im Erkenntnisprozess meint: „Weil noch die fernsten Objektivierungen des Denkens sich nähren von den Trieben, zerstört es in die- sen die Bedingungen seiner selbst. […] Ist einmal die letzte emotionale Spur getilgt, bleibt vom Denken einzig Tautologie übrig“ (Adorno 2003h, Aph. 79). „Bloß subjektiv“ (Adorno 1962, S. 12) wird dieses positivistische Erkenntnis ideal deshalb, weil jene Erkenntnis, die nicht mehr auf ihr (gesellschaftliches oder privates) Interesse an ihrem Gegenstand, nicht mehr auf ihre Bedeutung reflektiert, keinesfalls frei vom Interesse ist, sondern nur dessen Reflexion Im Ritornell ist die sprachliche Form vollständig aufs Schema reduziert; auf ein nichtssagendes Sagen, dem jeder libidinöse oder aggressive Wert, d. h. auch nur irgendein Signifikat fehlt. Wo das Person-Ich Wahnarbeit am Ritor- nell leistet, indem es anspielend spricht, umkreist es dieses Nichts der Be- deutung mit völlig hohlen, doch fixierten Worten. In diesem Prozess der Mo- difikation der eigenen Persönlichkeit und der inneren Objektwelt insgesamt stürzt alles, was von ihm erfasst wird, in diese symbolisch rigide strukturierte Nichtigkeit – und letztlich das Subjekt selbst: „Geht es [das Ich – Anm. d. A.], positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 212). Das Ritornell als Signifikant ohne Signifikat bedeutet für Horkheimer & Adorno darum ein epistemologisches Verhältnis des Subjekts zur Welt als bloßes „Registrieren von Gegebenem“ (ebd.), weil es eine libidinöse Beset- zung des Objektes, eine Bedeutung, eben ein Signifikat braucht, um dieses Objekt nicht nur als das Besondere eines abstrakten Allgemeinen zur Kennt- nis zu nehmen, das von diesem Besonderen völlig unaffiziert bleibt (vgl. Kapi- tel 4.3.I „Stillgestellte Dialektik“). Was das Bewusstsein, was das Ich „geben“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 212) muss, um das Gegebene als Gegebenes erfahren zu können, ist ein Interesse am Gegebenen, in dem es sich dem Sub- jekt erst Stück für Stück enthüllt. Ein völlig indifferentes Desinteresse gegen- über der Bedeutung des Objektes, das sich gar nicht erst in der Weise einer aufnehmenden Betrachtung zu ihr verhält, kann also niemals dazu führen, dessen Bedeutung zu verstehen oder sogar zu begreifen. Derart ist auch jede Möglichkeit der Veränderung von Signifikant und Sig- nifikat blockiert, sodass – wie bereits im Wahneinfall – der Signifikant erstarrt, die Welt aber nicht von einem lebendigen, imaginären Gewimmel erfüllt ist, sondern von einer toten, abgewandten Ernüchterung heimgesucht wird. Nicht der imaginäre Hinter-Grund hüllt die Welt in eine vom Symbol ungreif- bare, unendlich tiefe, semantische Dunkelheit ein, sondern sie enthüllt sich 54 6. Fazit 6.1 Zusammenfassung Bevor diese Arbeit mit der Entwicklung von Horkheimer & Adornos Begriff des Wahns begann, rechtfertigte sie zunächst, dass es sich bei ihrem Rück- griff auf den Begriff der Paranoia nicht um eine bloße Metapher handelt, die das mit ihr Markierte schlicht als irrational und unvernünftig kennzeichnen soll. Vielmehr zeigt sich aus dem immanenten Werkzusammenhang heraus, dass er nicht anders sinnvoll denn als psychoanalytischer Begriff verstanden werden kann, der auf die Entwicklung einer spezifischen Logik der Irrationa- lität aus ist, die der Individualpathologie entlehnt ist. Durch den Rückgriff auf Freuds metapsychologische Schriften zur Unter- scheidung von Neurose und Psychose kontextualisierte diese Arbeit zunächst Horkheimer & Adornos psychoanalytische Überlegungen zur Paranoia und gab eine erste Skizze ihres Begriffs aus. Dabei stellte sich der Unterschied zwischen den beiden Krankheitslogiken zunächst als der zwischen verschie- denen, intrapsychischen Konfliktbewältigungsmodi dar, bei denen entweder der innere oder der äußere Anlass einer Konfliktkonstellation skotomisiert, d. h. dem bewussten Zugriff des Subjekts entzogen wird. Darüber hinaus kommt das konkrete neurotische oder psychotische Symptom jedoch im- mer als Ersatz des verloren gegangenen Inneren oder Äußeren in Betracht, sodass der Wahn mit Freud nicht nur als Verlust einer äußeren Wirklichkeit, sondern immer auch als Wirklichkeitsersatz zu denken ist. Die ausführlichere Betrachtung des Wahns als einer Psychose nahm diese Arbeit nun entlang der Unterscheidung dreier verschiedener begrifflicher Momente vor, die jede befriedigende metapsychologische Betrachtung darstellen können sollte: die psychotische Krise, die Wahnkonstitution und die Wahnkonstruktion. entfallen lässt. Selbst wo die vollständige Eliminierung der subjektiven Be- deutung und des subjektiven Interesses der Erkenntnis tatsächlichen Erfolg zeitigt, ist dadurch „das vollkommen Nichtige, das aufgebauschte bloße Mit- tel, Beziehungen, Machenschaften, die finstere Praxis ohne den Ausblick des Gedankens“ (Horkheimer & Adorno 1989, S. 212) als jener subjektive Zweck gesetzt, der sich allen Zwecken indifferent verfügbar macht – egal, wie sub- jektiv und irrational sie auch sein mögen. In Adornos Typologie von Syndro- men der Ich-Schwäche ist der bereits besprochene, ‚manipulative‘ Typus das charakteranalytische, vorklinische Stadium eines akuten positivistisch struk- turierten Wahns (vgl. Kapitel 3.2.II.a „Der ‚manipulative‘ Typus“). 55 psychotischer und wahnhafter Reaktionsformen und in einem Fall umfasst sie sogar einen präklinisch psychotischen Charaktertyp. Zur Erläuterung der Wahnkonstitution wurde Freuds Begriff der nar- zisstischen Regression in den Blick genommen. Sie meint den intrapsychi- schen Vorgang, durch den das Ich eine auf andere Weise unbewältigbare Libido-Spannung abzubauen versucht, die ansonsten zu einer Resexualisie- rung seiner sozialen Triebe führte, indem es sich selbst mit der freien Libido besetzt. Diese Erläuterung Freuds machte es nötig, vier Weisen auszudiffe- renzieren, in denen bei Freud, Horkheimer & Adorno und Lacan von Ich die Rede sein kann. Freuds (Wahrnehmungs-)Bewusstsein ist dabei zunächst ein in sich nicht unterscheidendes Bewusstsein von x, das sich in der Phase des primären Narzissmus auf sich selbst als sein Objekt, sein Idealich bezieht, in- dem es alle Lust in sich zu absorbieren und alle Unlust aus sich zu exkommu- nizieren versucht. Diese Phantasie des Ichs als Selbst muss das Subjekt durch das Eingreifen der Triebverzicht fordernden sozialen Umgebung aufgeben, sodass es die verloren gegangene primär-narzisstische Befriedigung durch seine Angleichung an ein ihm von der sozialen Umwelt gegebenes Ichideal wiederzufinden versucht. Hier ist sein Ich Person geworden, insofern es in symbolisch organisierte Anerkennungsbeziehungen eingetreten ist und Ich und Über-Ich als Instanzen in sich aufgerichtet hat. Über die Zeit entwickelt das Subjekt eine innere Objektwelt, die es zu sich in einer objektförmigen Nar- ration in Beziehung setzt, die seine Persönlichkeit ist. Mithilfe dieser Begriffe konnte die narzisstische Regression als der (partielle) Austritt des Subjekts aus den symbolisch organisierten Anerkennungsbeziehungen der sozialen Welt bestimmt werden, über die sein Begehren als Person und Persönlichkeit vermittelt ist. Diese Verschiebung der Ich-Organisation erscheint in der Auf- hebung der Realitätsprüfung hinsichtlich des verworfenen Begehrens und in der Wiederherstellung des Versuchs, das die Angst verursachende Begehren als Unlust aus sich zu exkommunizieren. Der an der inneren Objektwelt voll- Die psychotische Krise zu erklären bedeutete, sie mit Freud als die Wahl des Subjekts zwischen der alloplastischen Veränderung der Umwelt, der Ver- drängung, der verdrängt ersatzbefriedigenden Neurose oder der autoplasti- schen Psychose innerhalb einer bestimmten Konfliktkonstellation zu erklä- ren. Dabei folgt diese Wahl ökonomischen Kräfteverhältnissen, die einerseits zwischen den drei intrapsychischen Instanzen von Es, Ich und Über-Ich und andererseits zur Außenwelt bestehen. Die Psychose setzt dort ein, wo das Ich sowohl in seinem Verhältnis zum Es als auch der Außenwelt zu schwach ist, um eine andere Lösung als die Psychose herbeizuführen; wo also eine re- lative Ich-Schwäche besteht. Um die Frage zu klären, worin solch ein schwa- ches Ich erscheint, rekonstruierte diese Arbeit jene idealtypische Genese der autonomen Ich-Organisation, die Adorno Mündigwerdung nennt. Erst nach dem Durchlaufen eines Dreischritts aus der Introjektion des sozialen Codes, der Identifikation mit ihm und der Ablösung vom Vaterobjekt ist das Ich zur Quelle und Instanz seines eigenen, autonomen Urteils geworden. Mit dem Begriff der autonomen Ich-Organisation ausgestattet, wandte sich die Analyse in der Folge den Studien zum autoritären Charakter zu, in de- nen Adorno eine Typologie der Ich-Schwäche entwirft. Wie sich erwies, folgt die Logik dieser Typenkonstruktion verschiedenen Formen der Negation des Satzes „Ich urteile über den Vater“, durch welche die zur Mündigwerdung nötige Identifikation mit dem sozialen Code durchkreuzt wird. Infolgedes- sen können Ich-schwache Subjekte ihn nicht gegen das Fehlverhalten des Vaters wenden und sich nicht von seiner Autorität ablösen. Diese Unfähig- keit des Subjekts zur Ablösung erscheint in der Externalisierung von Ich- und Über-Ich-Funktionen, durch die die Fallibilität der Autorität je verschieden skotomisiert wird. Adornos Typologie der Ich-Schwäche erklärt dabei die Dis- positionen von Subjekten für die Annahme paranoid strukturierter politischer Ideologie, in manchen Fällen die Vulnerabilität für die Ausbildung vollwertig 56 Im Folgenden wandte die Arbeit sich der Frage nach dem Grund dieses Sprechens zu. Horkheimer & Adorno geben hier ein Abwehrmotiv aus: Die pathische Projektion überträgt einen Kastrationsangst auslösenden Trieb auf ein äußeres Objekt, wird ihn dadurch los und festigt den durch die Projekti- on errichteten Abstand durch das wahnhafte Sprechen als Rationalisierung des Projizierten. Diese stellt sich gerade dadurch als bloß affektiv motiviert heraus, dass sie unkorrigierbar und also wahnhaft gewiss ist. Diese beiden Eigenschaften des wahnhaften Sprechens erscheinen in der Stillstellung der Dialektik des wahnhaften Signifikanten, die Horkheimer & Adorno als die Unempfindlichkeit des pathisch projizierten Begriffs gegen diejenige Sache denken, von der er Begriff ist. Auf der Seite des Subjekts erscheint dies als die subjektive Unfähigkeit zur Erfahrung mit der Sache in ihrer das bloß all- gemeine Urteil negierenden Einzigartigkeit. Dadurch ändert sich das Verhält- nis des Subjekts zur symbolisch vermittelten Wirklichkeit in einer doppelten Weise: Einerseits werden Existenzurteile von der Möglichkeit ihrer Korrek- tur durch die Erfahrung mit den konkreten Objekten des Urteils entkoppelt, sodass der Begriff zum reinen Stereotyp zugerichtet wird; andererseits wird die Wirklichkeit Selbst-bezüglich, da das, was in der Wirklichkeit und als wirklich erscheint, nicht diese ist, sondern der eigene, vom Objekt entkop- pelte psychische Inhalt – nämlich das Verworfene. Mit Lacan argumentier- te diese Arbeit jedoch gegen Horkheimer & Adornos Begriff des Wahns als Unverrückbarkeit von Existenzurteilen und präzisierte, dass die wahnhafte Gewissheit sich auf die Selbst-Bezüglichkeit der die Wirklichkeit zerschnei- denden Bedeutung bezieht, nicht aber notwendig darauf, ob diese Bedeu- tung vom Subjekt selbst für eine anerkennbare Realität gehalten wird. Für Lacan ist die Motivation des wahnhaften Sprechens nicht primär die Ratio- nalisierung, sondern das Ablegen eines Zeugnisses über etwas, hinsichtlich dessen das Subjekt wahnhaft gewiss ist, dass es davon radikal betroffen ist. Mit Lacan konnte die Analyse zwischen dem selbstgenügsamen Wahn unter- zogene Libido-Entzug, der sich gegen die Anerkennung des Satzes „Ich liebe x“ wendet, erscheint entweder als Absterben und Bedeutungsloswerden der eigenen Person oder der äußeren Welt, die Libido-Besetzung des Selbst da- gegen als Größenwahn. Hier begab sich die Rekonstruktion in Widerspruch zu Freuds Para- noia-Theorie, indem sie nicht von der Verwerfung einer resexualisierten, ho- mosexuellen Triebregung sprach, sondern die allgemeinere Form „Ich liebe x“ wählte. Für dieses Ausscheren wurden zwei Gründe gegeben: Einerseits nehmen Horkheimer & Adorno diese Verallgemeinerung in ihrer Theorie der pathischen Projektion selbst vor, die der eigentliche Gegenstand der Rekon- struktion ist. Andererseits zeigte sich bereits exemplarisch am Fall Schreber, dass der verworfene Trieb hier ein narzisstischer war und kein resxualisierter, sozialer, da der Wahn nicht das Problem von Schrebers desublimierter Ho- mosexualität löst, sondern von Schrebers Geschlechtsidentität. Im Folgenden ließen sich mit Freud drei Formen des Einspruchs gegen den Satz „Ich liebe x“ denken, die an den verschiedenen Positionen seiner Grammatik ansetzen: im Eifersuchtswahn am Subjekt, im Verfolgungswahn am Prädikat und in der Erotomanie am Objekt. So aber tat sich der Wider- spruch auf, dass der Wahn eine symbolische, grammatische Struktur haben soll, obwohl die narzisstische Regression zuvor als das Austreten des Subjekts aus der Sphäre des Symbolischen bestimmt wurde. Er ließ sich so auflösen, dass die Form des Widerspruchs in der narzisstischen Regression nicht selbst grammatisch ist. In der Verwerfung wird nicht bloß der Existenzwert eines Be- gehrens, sondern sein Symbolwert negiert, sodass das wahnhafte Sprechen genau in dieser dilemmatischen Position situiert ist, über ein Unaussprechli- ches, ein Reales zu sprechen. Es ist dieses Sprechen, das den Eintrittspunkt der psychoanalytischen Arbeit am Wahn bildet und gerade als Abbruch des Sprechens und Scheitern des Signifikanten in der Sprache erscheint. Nur weil der Wahn sich artikuliert, ist er ein analysierbares Phänomen. 57 spielenden Kreisen um diesen bedeutungsschwangeren Signifikanten, das wegen seiner Fülle an Bedeutung scheitern muss und sich darum in eine potenziell unendlich iterative Wahnarbeit übersetzt, bildet das Subjekt für Horkheimer & Adorno eine idealistische Subjekt-Objekt-Relation aus, in der die sonst symbolisch vermittelte Welt in einen imaginären Hinter-Grund ein- getaucht ist. Auf ihn wird angespielt als eine eigentliche Welt hinter den Din- gen, die sich jedoch als Horizont allen Sinns zugleich unendlich unaussprech- lich entzieht. Im Ritornell dagegen ist der wahnhafte Signifikant vollständig bedeutungslos, aber endlos repetitiv geworden. Erfasst die Anspielung auf das völlige Nichts der Bedeutung die durch sie nichtig werdende Welt, dann zeugt der Signifikant als stereotype Formel von einer positivistischen Sub- jekt-Objekt-Relation, in der der Gegenstand mit seinem sinnlosen Etikett zusammenfällt, das nichts sagt als einzig sich selbst: Es wird nichtssagend. Strömen der Signifikant und die Welt in Wahneinfall und wahnhaftem Idea- lismus vor subjektiver Bedeutung über, so ist im Ritornell und im wahnhaften Positivismus jede subjektive Bedeutung ausgemerzt. In beidem, dem Signifi- kat ohne wirklichem Signifikant wie dem Signifikant ohne wirklichem Signi- fikat, drückt sich das schiefgestellte, unauflöslich dilemmatische Verhältnis des psychotischen Subjekts aus, das als Person über ein Selbst-averses, ex- kommuniziertes Begehren zu sprechen versucht, über das es doch aber eben darum niemals wirklich sprechen kann. 6.2 Ausblick Hier nun sind schlussendlich diejenigen Ergebnisse gesondert festzuhalten, die der besondere, versuchsweise Zugang dieser Arbeit zur Theorie der pathi- schen Projektion hinzufügen oder präzisieren konnte, oder an die mit weite- ren Arbeiten anzuschließen wäre. scheiden, der sich um die soziale Anerkennung der Existenz des Realen nicht schert, und dem geltungsdrängenden Wahn, der um diese auf dem Boden des Wahns unmögliche Anerkennung wirbt. Nun richtete das Erkenntnisinteresse sich auf die Bestimmung der Wahn- konstruktion als einem spezifisch dilemmatischen Sprechen, in dem das Verhältnis des Subjekts zum Signifikanten besondere Formen annimmt. Dabei wurden zunächst die Formen der Statik und der Dynamik im Prozess der Wahnkonstruktion als Schematisierung und als Wucherung bestimmt. Während die Schematisierung die Weise ist, wie der dialektische Stillstand im Symbol erscheint, ist die Wucherung dessen imaginäre Seite: Das, was wuchert, ist der dialektische Stillstand als Schematisierung des Symbols. Mit Lacan wurde entwickelt, wie der dialektische Stillstand vom Elementar- phänomen bis zum Wahnsystem wuchert. Dieser Entwicklungsprozess ist nicht primär als Integrationsbewegung des dialektischen Stillstands in eine rationalere Gesamtorganisation zu verstehen, sondern als Reproduktion sei- ner selbst: Es handelt sich um die notwendig scheiternde Artikulation einer nicht-symbolisierten Bedeutung, von der das Subjekt darum nicht anders sprechen kann, denn im Modus der psychotischen Anspielung. Weil aber das, worauf es anspielt, eine Bedeutung ist, die nicht symbolisiert werden kann, zertrennt das wahnhafte Subjekt in der artikulierten Anspielung die Verwei- sungsstruktur von Signifikant und Signifikat. Da die psychotische Anspielung auf irgendetwas verweisen muss, wenn sie nicht auf konkrete, signifikant strukturierte Signifikate verweist, geht sie auf die Bedeutung als Bedeutung. Daran anschließend wurden exemplarisch die beiden Pole der wahnhaften Anspielung entwickelt, zwischen denen sich die Fülle der Phänomene im Wahn bewegt. Im Wahneinfall ist der wahnhafte Signifikant so sehr mit Bedeutung über- frachtet, dass er nicht auf andere Signifikanten bezogen werden kann; er bedeutet unmittelbar eine ungeheure, Selbst-bezogene Bedeutung. Im an- 58 pektive als das Wesen eines psychotisch strukturierten Diskurses begreif- bar, in dem sie nicht als bloßes Mittel auftaucht, sondern als Bedingung der Möglichkeit der scheiternden Artikulation des Verworfenen. 2. In Lacans Zugang zu den Psychosen liegt darüber hinaus die Möglichkeit einer stärkeren Unterscheidung zwischen der individuellen Paranoia und einer psychotisch orientierten, autoritären Charakterstruktur wie der des ‚Spinners‘. Die Verknüpfung von Autoritarismus und Wahn ist keineswegs notwendig, sodass, wer bspw. einen Verfolgungswahn ausbildet, nicht auch eine autoritäre Charakterstruktur aufweisen muss. Zwar werden die Unterschiede zwischen dem echten Individualwahn und dem normal- pathologischen auch von Autoren wie Rolf Pohl für die Paranoia-Theorie Horkheimer & Adornos festgehalten und ausgearbeitet, doch erlaubt der Umweg über Lacans individualpsychologischen Zugang in besonderer Weise, den Unterschied zwischen der strukturalen Ebene, auf der der Wahn situiert ist, und seiner autoritären Verarbeitung durch bestimmte Charak- tertypen zu formulieren und zu begründen (vgl. Pohl 2006, S. 66–70; Ador- no 1971, S. 92; Adorno 2003d, S. 15; Adorno 2003f, S. 767; Adorno 1995, S. 8f., 122). Derart ist in der Analyse autoritärer Massenbewegungen jenes Missverständnis zu vermeiden, dem Lacan gemäß bereits die französische Psychiatrie noch bis in die 1930er Jahre unterlag: „ein Paranoiker, das war ein Böser, ein Intoleranter, ein Kerl mit übler Laune, Hochmut, Mißtrau- der Frankfurter Schule. Er diskutiert einzig Richard Hofstadters Essay The Paranoid Style in American Politics, der sich auf soziologische Arbeiten Neumanns und Adornos stützt, und sitzt dabei dem Missverständnis auf, dass diese Traditionslinie den sozialpathologi- schen Wahn der Verschwörungstheorie auf die individuelle, klinische Paranoia zurückführe, wodurch sie eine „Pathologisierung von Verschwörungstheoretikern als paranoid“ (Butter 2018, S. 15) bewirke. Tatsächlich aber könnte die psychoanalytische Traditionslinie kaum expliziter sagen, dass sie gerade dies nicht tut (vgl. Pohl 2006, S. 66–70). Butter argumentiert gegen diese These, indem er auf die hohe Prävalenz von Verschwörungstheorien verweist (vgl. Butter 2018, S. 15). Diesem Argument entgegnete jedoch schon Adorno treffend: „Die Überzeugung, Rationalität sei das Normale, ist falsch. Unterm Bann der zähen Irrationalität des Ganzen ist normal auch die Irrationalität der Menschen“ (Adorno 2003g, S. 587). 1. Horkheimer & Adornos Paranoia-Theorie aus einer Lacanianischen Pers- pektive zu lesen, machte es möglich, ausgehend vom Unterschied zwischen den Neurosen und den Psychosen die besondere Form der psychotischen Projektion als die Wiederkehr des Verworfenen im Realen zu bestimmen. Lacans linguistische Orientierung auf die psychotischen Sprach- und Sprechphänomene und deren besondere Form eröffnet die Möglichkeit, sozialpathologische Wahnphänomene nicht bloß auf der Grundlage ma- terialfalscher Urteile zu identifizieren, sondern sie anhand der Anspie- lungsstruktur des psychotischen Sprechens selbst zu bestimmen, in dem der Signifikant in bestimmter Weise umgeformt ist. Anstatt auf die mithin schwer feststellbare Unkorrigierbarkeit von Existenzurteilen angewiesen zu sein, zeigt sich der Analyse sozialpathologischer Wahnphänomene die Abteilung des Signifikanten vom Signifikat in ihren verschiedenen Erschei- nungsformen und der notwendig misslingende Versuch, das Verworfene in der Sprechpraxis zu artikulieren als Schibboleth (vgl. Lacan 2016d, S. 111). Dieser anders gelagerte Zugang zu sozialpathologischen, wahnhaf- ten Diskursen ermöglicht deren Identifikation und Analyse nicht bloß über die Irrationalität ihres Inhalts, sondern über die Form seiner Performanz. Derart erklärt sich bspw. die auffällig oft vorkommende Figur der Anspie- lung in Antisemitismus und Verschwörungstheorien nicht als bloß strate- gischer Versuch, einen eigentlich gewussten, tabuiert-aggressiven Inhalt durch das Vermeiden der direkten Ansprache sozial akzeptierter werden zu lassen und sich die Möglichkeit des Rückzugs für den Fall der direkten sozialen Konfrontation offenzuhalten (vgl. Holz 2001, S. 481).74 Auch wenn die Anspielung nichtsdestotrotz als rhetorisches Mittel besonders gut für derartige Manöver geeignet ist, so wird sie aus einer Lacanianischen Pers- 74 So spricht Michael Butter bspw. hinsichtlich der „Uneindeutigkeit“ antisemitischer Chiffren explizit von einer „strategischen Offenheit“, die „oft bewusst produziert“ werde (Butter 2020a). Darüber hinaus unterschlägt Butter in seinem Überblick über das Forschungsfeld an anderer Stelle nahezu die gesamte psychoanalytische Theorietradition aus dem Umfeld 59 4. Eine an diese Arbeit anschließende Untersuchung, die auf eine Explikati- on oder Aktualisierung des Begriffs des sozialpathologischen Wahns bei Horkheimer & Adorno zielte, müsste jenen Verkomplizierungen gerecht werden, die in den Begriff der Wirklichkeit eintreten, sobald diese selbst als sozial geteilte, psychotische oder paranoide bestimmt wird. Doch auch hier kann Lacan dabei helfen, das Ausgangsproblem leichter als bisher zu stellen, wenn Wirklichkeit nicht als Set sich von selbst verstehender, ge- teilter Urteile und Praktiken aufgefasst wird, die dem Subjekt im Zuge der Psychose verlorengehen, wie es schon Horkheimer und Adorno nicht tun. Vielmehr ist der Zugang zu ihr als die auf die Dialektik von Symbol und Bedeutung hin geöffnete Sprechpraxis des Subjekts zu verstehen, die es in der Wahnkonstruktion wiedergewinnen will, ohne dies doch auf dem Bo- den der psychotischen Anspielung leisten zu können. Hier kann Lacans lin- guistische Orientierung auf die Performanz des psychotischen Sprechens zwei Punkte beitragen: Einerseits muss das im Realen erscheinende Verworfene nicht erst zum Prob- lem gemacht werden, weil es irrational und unvernünftig ist, denn es ist dem Subjekt im psychotischen Sprechen bereits selbst das Problem schlechthin, vor dessen Lösung es gestellt ist, und an dem es leidet, ohne überhaupt noch dazu fähig zu sein, die Quelle seines Leidens zu benennen (vgl. Schreber 2016, S. 239). Das Problem artikuliert sich bereits an Ort und Stelle – wenn auch in besonderer Form. In besonderer Weise ließe sich dann die von Pohl analysierte Normalisierungsfunktion von Massenpsychosen in Analogie zu Lacans Begriff der Anspielung als der notwendig scheiternde und darum sich verschärfend iterierende Versuch der autoritären Lösung eines von der Gesellschaftsorga- nisation verworfenen Problems kritisieren, das sie noch nicht einmal zu arti- kulieren in der Lage ist (vgl. Pohl 2006, S. 66f.). Einen solchen sozial anerkann- ten, wahnhaften Diskurs, der heute ob der Krise, in die er geraten ist, sich in en, Empfindlichkeit, Selbstüberschätzung. Diese Charakteristik bildete die Grundlage der Paranoia – wenn der Paranoiker allzu paranoisch war, konn- te er delirieren“ (Lacan 2016d, S. 13). Zugleich lässt sich die Bestimmung der Form eines gesellschaftlichen Diskurses als wahnhaft viel einfacher von der Frage nach der konkreten psychologischen Verfasstheit der Indi- viduen ablösen, die – in welcher Form auch immer – an ihm teilnehmen: Da für Lacan in der Frage der Paranoia die Form des Diskurses entschei- dend ist, der das artikulierte Sprechen strukturiert, benötigt man zu dieser Formbestimmung nicht mehr als gerade diese Artikulationen. 3. Daneben lässt sich mit Lacan zugleich der besondere Unterschied zwi- schen dem (prä-)psychotisch projizierenden Spinner und dem (prä-)schiz- ophrenen Manipulativen zu den anderen, eher neurotisch orientierten Charaktertypen formulieren, die im Vorurteil zweifelsohne alle formal pa- thisch projektiv verfahren, aber eben nicht auf derselben strukturalen Ebe- ne ‚projizieren‘. Nicht ohne Grund nennt Adorno die ‚Spinner‘ die „selbst in Zeiten abflauender Rassenpropaganda unermüdlichen Anhänger der Agitatoren“ (Adorno 1995, S. 332) und den ‚manipulativen‘ Typus „das po- tentiell gefährlichste Syndrom“ (ebd., S. 334): Für beide ist in der Verwer- fung die symbolisch organisierte Wirklichkeit als ganze affiziert – erscheint ihnen die verworfene Bedeutung nun auch noch als eine feindliche, der gegenüber sie sich autoritär in Abwehr- und Vernichtungsstellung bringen, so betrifft das zu lösende Problem immer schon die Struktur der Welt als solche. Bei diesen beiden Figuren besteht nicht mehr eine bloße „Wahn- bereitschaft, die zum allgemeinen Bestand individueller Dispositionen ge- hört“ (Pohl 2006, S. 68) und deren Aktivierung erklärt, warum die Einzel- nen in der Massenpsychose keineswegs manifeste Paranoiker:innen sein müssen. Vielmehr tendieren die ‚Spinner‘ und die ‚Manipulativen‘ bereits von sich aus psychologisch zum Totalitarismus (vgl. Adorno 1995, S. 143). 60 nicht enden wollenden Schleifen einer notwendig fehlschlagenden autoritä- ren Lösung verfängt, nennt Lacan wie beiläufig schon im Psychosen-Seminar: Es ist „der Diskurs der Freiheit“ und die ihm inhärente liberale Phantasie vom Subjekt als Souverän seiner selbst, das sich im Besitz „seiner irreduziblen Au- tonomie als Individuum“ (Lacan 2016d, S. 158) befindet (vgl. ebd., S. 158f.). Andererseits könnte die hier vorgeschlagene, ergänzende linguistische Orientierung abseits materieller Rationalitätskriterien zur Bestimmung der Wahnhaftigkeit eines Diskurses eine Problemstellung auflösen, die die Ana- lyse sozialpathologischen Wahns bereits für Adorno in eine widersprüchliche Position brachte. Hinter sie dürfte eine zeitgemäße Theorie sozialpathologi- schen Wahns nicht zurückfallen: „Heute ist es vollends problematisch, der bloßen Meinung im Namen von Wahrheit zu opponieren, weil zwischen jener und der Realität eine fatale Wahlverwandtschaft sich herstellt, die dann wiederum der Ver- stocktheit der Meinung zugute kommt. Sicherlich ist die Meinung der Närrin, die ihr Bett im Schlafzimmer anders aufstellen läßt, um sich vor der Gefahr bösartiger Strahlung zu schützen, pathogen. Aber die Gefahr von Strahlen in der atomverseuchten Welt ist so angewachsen, daß ihre Sorge nachträglich von derselben Vernunft honoriert wird, der ihr psy- chotischer Charakter sich entzieht. Die objektive Welt nähert sich dem Bild, das der Verfolgungswahn von ihr entwirft. Davor bleibt der Begriff des Verfolgungswahns, und die pathische Meinung insgesamt, nicht ge- schützt. Wer heute noch das Pathogene der Realität mit den traditionel- len Kategorien des Menschenverstandes zu begreifen hofft, verfällt der gleichen Irrationalität, vor der er sich durch seine Treue zum gesunden Menschenverstand zu sichern einbildet.“ (Adorno 2003g, S. 590) 61 Bernet, Rudolf: Wahn und Realität in der Psychose. In: Gerd Unterthurner & Ulrike Kadi (Hg.): Wahn – Philosophische, psychoanalytische und kultur- wissenschaftliche Aspekte. Wien & Berlin 2012, S. 9–36. Butter, Michael: • „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Berlin 2018. • Antisemitische Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart. 26.11.2020a. https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-an- tisemitismus/321665 • Verschwörungstheorien. 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